Und der Grund dafür isj; allein dieser Defekt.« Er wies auf die blutenden Mauern. »Die Burg war zu krank, um ihr Eindringen zu verhindern oder, nachdem dies bereits geschehen war, sie aufzuhalten. Soweit ich weiß, ist eine solche Störung noch nie vorgekommen. Zwar sind auch schon in der Vergangenheit Personen unbefugt ins Burginnere vorgedrungen, aber nicht, weil die Burg selbst in ihrer Funktion versagt hätte, sondern weil diese Eindringlinge klug waren oder außergewöhnliche Talente besaßen, oder auch, weil sie Hilfe von drinnen hatten. Sechs dagegen ist ganz alleine hier hereinspaziert. Sie musste lediglich ein paar Umwege machen, um die noch funktionierenden Schilde zu umgehen.«
»Die Chimären ...«, entfuhr es Nicci tonlos, der plötzlich ein Licht aufging.
Zedd pflichtete ihr nickend bei. »Richard hatte recht.« »Lässt sich etwas dagegen tun?«
»Schon. Vorausgesetzt, es gelingt uns, ihn zu finden und dazu zu bringen, das korrekte Kästchen der Ordnung zu öffnen. Der Feuerkettenbann ist ebenfalls durch die Chimären verunreinigt. Und dies ist der Beweis dafür, dass alle Magie von ihnen verunreinigt wurde -genau wie Richard es uns erklärt hat. Er muss die Macht der Ordnung entfesseln und darauf hoffen, die Welt dadurch nicht nur von dem Feuerkettenbann, sondern auch von der durch die Chimären in der Welt des Lebens hinterlassenen Verunreinigung zu säubern.«
Nicci neigte den Kopf zur Seite. »Die Macht der Ordnung wurde zu einem ganz bestimmten Zweck erschaffen, Zedd, als Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann. Sie wird kaum andere magische Kräfte aufspüren, die uns zu schaffen machen, und diese ebenfalls beseitigen. Dafür wurde sie nicht geschaffen.«
Zedd strich einige Strähnen seines weißen Haars glatt und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ihr habt selbst davon gesprochen, dass die Macht der Ordnung, wie jede andere Kraft auch, für Ziele jenseits ihres eigentlichen, eng umrissenen Verwendungszwecks eingesetzt werden kann. Genau das muss Richard jetzt tun.«
Nicci wusste nicht, ob ein so erschöpfendes Vorgehen klug oder auch nur möglich wäre, fand aber nicht, dass dies der rechte Ort oder Zeitpunkt war, darüber zu diskutieren. Noch waren sie weit davon entfernt, Richard einen solchen Versuch wagen zu lassen, zunächst mussten sie ihn erst einmal finden. Danach würde das Öffnen der Kästchen noch Schwierigkeiten aufwerfen, die sie Zedd noch nicht einmal ansatzweise enthüllt hatte, weil sie ihn nicht über Gebühr hatte beunruhigen wollen. Schwierigkeiten hatten sie ohnehin schon mehr als genug.
»Bis dahin«, sagte Zedd, »müssen wir die Burg evakuieren.«
Nicci war entsetzt. »Aber wenn die Burg geschwächt ist, müssen wir das genaue Gegenteil tun und sie verteidigen. Hier lagern Dinge von unschätzbarem Wert, die wir unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten lassen dürfen. Wir dürfen nicht riskieren, dass die hier aufbewahrten mächtigen magischen Gegenstände - die noch funktionierenden jedenfalls - Jagang oder den Schwestern in die Hände fallen. Ganz zu schweigen von den Bibliotheken.«
»Aus ebendiesem Grund müssen wir sie verlassen«, beharrte Zedd.
»Anschließend kann ich die Burg in einen Zustand versetzen, der sie vollkommen unzugänglich macht. Soweit ich weiß, ist das bislang noch nie versucht worden, aber eine andere Lösung sehe ich nicht.«
Niccis Blick wanderte zu dem aus dem Mauerwerk sickernden Blut empor. »Wenn die Burg tatsächlich krank ist und ihre Magie versagt, wie könnt Ihr dann so etwas tun und auch noch erwarten, dass es funktioniert?«
»In den alten Schriften über die Schutzvorrichtungen der Burg findet sich auch eine Erklärung zu den blutenden Wänden. So schaurig dieses Phänomen sein mag, es zeigt, wie schwerwiegend die Probleme der Burg tatsächlich sind. Soweit ich weiß, ist dergleichen noch nie vorgekommen. Es ist das erste Mal, dass eine solch drastische Warnung notwendig wurde. Es ist halt eines der Dinge, die ich bei meinem Amtsantritt als Oberster Zauberer über diesen Ort lernen musste.
In denselben Quellen werden die Notmaßnahmen beschrieben, die es in diesem Falle zu ergreifen gilt. Es gibt eine Möglichkeit, die Burg abzuriegeln, indem man sie in einen Zustand erhöhter, noch nicht degenerierter Energie versetzt.«
Nicci fand allein schon die Vorstellung beunruhigend. »In einen Zustand erhöhter Energie?«
»Es befand sich im Lager - ich habe einen ganzen Tag gebraucht, um es zu finden.«
»Was?«
Zedd wies auf eine nahe, messingverkleidete Tür, hinter der sich das Kästchen der Ordnung befunden hatte, bevor es von Sechs entwendet worden war. »Ein Knochenkästchen. Es befindet sich dort drinnen und hat die ungefähre Größe eines Kästchens der Ordnung. Es besteht zwar aus Bein, allerdings weiß ich nicht, von welchem Tier. Außen ist es über und über mit alten Symbolen bedeckt und enthält einen entworfenen Bann, der angeblich auf das Wesen des Hüters abgestimmt ist. Entworfen wurde der Bann von denselben Zauberern, die auch die Burg mit ihren zahlreichen Schutzvorrichtungen ausgestattet haben. Man könnte es mit einer kleinen Menge Originalteig vergleichen, den man zurückbehält, um jederzeit wieder den gleichen Brottyp backen zu können. Der Bann enthält einige Elemente der Originalmagie der Burg. Ziemlich findig, wenn man es sich überlegt.«
»Wie lange wird er nach seiner Aktivierung Bestand haben, ehe er wegen der Verunreinigung durch die Chimären ebenfalls degeneriert?«
Zedd machte ein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Nach den Schriften, die ich studiert habe, und den von mir durchgeführten Tests könnte sich dieser Zustand eine Weile halten, aber mit absoluter Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Wir können es nur versuchen.«
»Und wenn er bereits von den Chimären beeinträchtigt ist?«, wandte Friedrich ein. »Schließlich ist die Burg selbst infiziert, und dieser Bann ist Bestandteil ihrer ursprünglichen Energie.«
Friedrich war den größten Teil seines Lebens mit einer Hexenmeisterin verheiratet gewesen und wusste eine Menge über Magie, auch wenn er selbst nicht mit der Gabe gesegnet war.
»Einige der beeinträchtigten Teile der Burg, wie die Alarmanlagen, habe ich anhand von Prüfnetzen zu kontrollieren versucht, aber wegen der bereits vorhandenen Beeinträchtigung war das nicht möglich. Die Prüfung des Banns in dem Knochenkästchen verlief einwandfrei. Meinen Tests zufolge ist es noch intakt.«
»Wieso können wir nicht hierbleiben und die Burg in ihren Schutzzustand versetzen?«, schlug Cara vor.
»Zu gefährlich«, erklärte ihr Zedd. »Die Notmaßnahme ist noch nie zuvor zum Einsatz gekommen. Weder kenne ich ihr genaues Wesen, noch weiß ich, wie sie funktioniert. Die Hinweise, die ich durchgesehen habe, besagen lediglich, dass dieser Zustand ein Betreten unmöglich macht. Ich kann nur vermuten, dass eine solche Notmaßnahme mit möglichen Eindringlingen nicht eben glimpflich verfährt. Allem Anschein nach handelt es sich um eine Art Lichtbann, und nach meinen begrenzten Kenntnissen über die Bedingungen im Innern der Burg in diesem Zustand wäre ein Aufenthalt hier vermutlich sehr gefährlich. Denn woher wollen wir wissen, dass sich nicht längst Eindringlinge in der Burg befinden?«
Cara straffte sich. »Etwa jetzt, in diesem Augenblick?«
»Aber ja. Wenn die Schutzvorrichtungen der Burg versagen und die Alarmanlagen nicht funktionieren, woher wollen wir dann wissen, dass hier nicht irgendjemand herumspaziert, der hier nichts zu suchen hat? Unseres Wissens könnte selbst Sechs noch hier herumschleichen, schließlich hat Chase nach eigenem Bekunden keine Spuren gefunden, die auf ihr Verlassen hindeuten. Auch Schwestern der Finsternis hätten sich einschleichen können. Es gibt einfach keine verlässliche Methode, das zu erkennen.