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Nachdem Owen, dessen Frau Marilee, Anson und Jennsen ausgeschwärmt waren, um das hügelige Gelände abzusuchen, hatte Laurie eine unerwartete Entdeckung gemacht. Sie weigerte sich jedoch, darüber zu sprechen, stattdessen drängte sie Jennsen zur Eile. Sie sollte selbst einen Blick darauf werfen und vor allem Schweigen darüber bewahren. Vorsichtig hob Laurie den Kopf, gerade weit genug, um in die Nacht hinausspähen zu können. Zeigend beugte sie sich nach hinten, damit Jennsen ihr Flüstern verstehen konnte. »Dort.«

Jennsen, mittlerweile angesteckt von Lauries Alarmiertheit, reckte behutsam den Hals, um in die Dunkelheit zu spähen.

Das Grab war geöffnet worden.

Jemand hatte das große, Nathan Rahl gewidmete Granitmonument zur Seite geschoben, und aus dem Boden drang ein Lichtschein hervor, der einen matt leuchtenden Strahl in das dunkle Herz der sternenklaren Nacht schickte.

Jennsen wusste natürlich, dass dies nicht wirklich Nathan Rahls Grabstätte war, aber Laurie konnte das nicht wissen. Nathan hatte dieses Grabmal, das seinen Namen trug, selbst entdeckt, als er mit Ann eine Zeitlang bei ihnen gelebt hatte. Außerdem hatte er herausgefunden, dass dieses Mal, anscheinend eine ziemlich verschwenderisch gestaltete Grabstätte, in Wahrheit den Eingang zu geheimen unterirdischen Räumlichkeiten bildete, die Unmengen von Schriften enthielten. Er und Ann hatten Jennsen erklärt, dass dieses geheime Bücherlager Tausende von Jahren alt und während all dieser Zeit durch Magie geschützt gewesen sei.

Doch von alldem wusste Jennsen nichts, sie besaß keine magischen Kräfte. Sie war eine von der Gabe völlig Unbeleckte - ein Loch in der Welt, wie sie manchmal von den Besitzern magischer Kräfte genannt wurde, weil deren Gabe blind gegen sie war. Sie war ein überaus seltenes Geschöpf - eine Säule der Schöpfung, genau wie ihr ganzes in Bandakar beheimatetes Volk.

In grauer Vorzeit hatte man herausgefunden, dass bei der Vermischung der von der Gabe völlig Unbeleckten mit normalen Menschen, die alle über zumindest einen winzigen Funken Magie verfügten, ausnahmslos von der Gabe völlig unbeleckte Nachkommen entstanden. Zogen diese dann frei und ungehindert durch die Welt, bestand die Gefahr, dass die Magie durch ihre Fortpflanzung vollends aus der Menschheit getilgt würde. Damals hatte man entschieden, der Gefahr einer stetig anwachsenden Zahl mit der Gabe völlig Unbeleckter dadurch zu begegnen, dass man sie zusammentrieb und in die Verbannung schickte. Da diese Besonderheit ihren Ursprung in der Nachkommenschaft des Lord Rahl hatte, wurden in der Folge alle Kinder eines Rahl einer Prüfung unterzogen und, wurde die von der Gabe völlige Unbelecktheit festgestellt, auf der Stelle getötet, um jede weitere Verbreitung dieses Merkmals in der normalen Bevölkerung zu unterbinden. Jennsen, Spross eines Vergewaltigungsopfers von Darken Rahl, war entgegen aller Wahrscheinlichkeit der Entdeckung entgangen. Nun oblag es Richard, dem derzeitigen Lord Rahl, diesen Makel aus seinem Stammbaum zu tilgen.

Der jedoch empfand diese Vorstellung als abstoßend. Seiner Überzeugung nach hatten Jennsen und andere wie sie das gleiche Recht auf Leben wie er selbst. In Wahrheit war er begeistert gewesen, dass er eine Halbschwester hatte, ob nun von der Gabe völlig unbeleckt oder nicht, und hatte sie mit offenen Armen willkommen geheißen. Darüber hinaus hatte er die Verbannung dieses Volkes aufgehoben und – ungeachtet der Auswirkungen, die dies auf das Vorhandensein der Magie innerhalb der Menschheit letztendlich haben mochte - die Barriere aufgehoben, die es vom Rest der Menschheit trennte. Seit dem Fall dieser Barriere waren viele aus dem Volk von Bandakar von der Imperialen Ordnung gefangen genommen und als Zuchtvieh missbraucht worden, um das Verschwinden der Magie zu beschleunigen. Die Übrigen waren zunächst in ihrer angestammten Heimat zurückgeblieben, um sich mit der Außenwelt vertraut zu machen, ehe sie über ihr weiteres Vorgehen entschieden.

Jennsen empfand eine enge Verwandtschaft mit diesen Menschen. Sie hatte sich ihr ganzes Leben verstecken müssen, weil ihr wegen des Verbrechens ihrer Herkunft die Todesstrafe drohte, und somit selbst in einer Art Verbannung gelebt. Daher war sie nun bei ihnen geblieben, um diesen Neubeginn eines Lebens voller Möglichkeiten mit ihnen zu teilen. Offenbar befürchtete Laurie, ihrer Welt drohe nun neues Unheil, allerdings galt dies seit dem Aufmarsch der Armee der Imperialen Ordnung für die Welt aller. So gesehen befanden sich die von der Gabe völlig Unbeleckten nicht mehr in einer außergewöhnlichen Situation. Jennsen war unschlüssig, wer sich jetzt dort unten in dem Grabmal aufhalten mochte. Womöglich waren Ann und Nathan zurückgekommen, um die Bücher abzuholen, die sie aus dieser lange vergessenen unterirdischen Bibliothek benötigten. Auch diese Bücher hatten sich in ihrem Versteck hinter den Grenzen, die erst mit dem Auftreten Richards wieder hatten überschritten werden können, in einer Art Verbannung befunden.

Vielleicht, überlegte Jennsen, war es auch Richard selbst. Es war schon eine Weile her, dass sich Ann und Nathan zusammen mit Tom auf die Suche nach ihm gemacht hatten. Hätten sie ihn gefunden, hätten sie ihm gewiss von der unterirdischen Bibliothek erzählt. Vielleicht war er ja zurückgekehrt, um sie selbst in Augenschein zu nehmen oder aber, weil er etwas ganz Spezielles suchte. Die Vorstellung, ihren Halbbruder wiederzusehen, ließ ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen. Andererseits konnte es durchaus auch jemand ganz anderes sein – jemand, der für sie alle eine Gefahr darstellte. Der Gedanke ließ sie zögern, überstürzt in das Grabmal hinabzusteigen.

Durch ihr ständiges Leben auf der Flucht vorsichtig geworden, verharrte sie regungslos in geduckter Haltung und hielt nach irgendeinem Hinweis Ausschau, wer sich dort unten in dem Grabmal befand. In der Ferne wiederholten Spottdrosseln in der regungslosen Finsternis ihre Rufe und versuchten, in einem nicht enden wollenden nächtlichen Streit sich gegenseitig zu übertreffen. Während sie ihnen müßig lauschte, wurde ihr klar, dass sie am besten in ihrem Versteck blieb und wartete, bis sich, wer immer sich im Grab befand, von selber zeigte. Da sie jedoch befürchtete, die anderen könnten von ihrer Suche zurückkehren und sie versehentlich verraten, beschloss sie, das Grab im Auge zu behalten und Laurie loszuschicken, um die anderen zu suchen und sie vor den unbekannten Eindringlingen zu warnen.

Noch ehe sie nahe genug heranrobben konnte, um Laurie mit leiser Stimme ihre Anweisungen zu geben, begann die junge Frau unvermittelt vorwärtszukriechen. Offenbar hatte sie beschlossen, das dort unten in dem Grabmal könnte vielleicht doch ihr Mann sein. Jennsen streckte sich und versuchte sie am Knöchel zu packen, doch der war längst außer Reichweite.

»Laurie!«, zischte Jennsen. »Bleib, wo du bist!«

Laurie überhörte das Kommando und robbte weiter durch das trockene Gras. Sofort kroch Jennsen ihr hinterher und bahnte sich einen Weg zwischen den alten Grabsteinen hindurch, die in dem unebenen Gelände überall verstreut umherlagen. Das trockene Gras machte für ihren Geschmack viel zu viele Geräusche, und Laurie war weder besonders vorsichtig noch leise. Jennsen hatte solche Dinge von ihrer Mutter gelernt, doch Laurie hatte davon so gut wie keine Ahnung. Ein gutes Stück weiter vorn entfuhr Laurie ein erschrockenes Keuchen. Jennsen hob gerade weit genug den Kopf, dass sie sehen konnte, ob jemand in der Nähe war - nur war es in dieser Dunkelheit schwer, überhaupt etwas zu erkennen. Ihrer Meinung nach konnten sie von einem Dutzend Soldaten umzingelt sein. Trotzdem, wenn sie sich ruhig verhielten, würde es schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, sie zu entdecken.

Plötzlich erhob sich Laurie bis zu den Knien und stieß dabei ein so schauderhaftes Heulen aus, dass Jennsens Nackenhaare sich sträubten. Der Schrei zerriss die nächtliche Stille. Die Spottdrosseln verstummten. Mitten in der Nacht trug ein solcher Schrei über riesige Entfernungen. Da sie nicht mehr befürchten musste, sich zu verraten, rappelte sich Jennsen auf und lief die noch verbliebene Entfernung bis hin zu Laurie, die, von unfassbarem Elend überwältigt, die Hände ins Haar gekrallt, den Kopf in den Nacken geworfen, ihren Kummer hinausschrie.