Vor ihr im Gras lag ausgestreckt ein Mann. Obwohl Jennsen das Gesicht bei dieser Dunkelheit nicht erkennen konnte, war nur allzu offensichtlich, um wen es sich handeln musste.
Jennsen zog das Messer mit dem Silbergriff aus der Scheide an ihrer Hüfte.
Just in diesem Moment tauchten die dunklen Umrisse eines großen Mannes mit einem Schwert in der Hand aus der Dunkelheit auf. Wahrscheinlich hatte er Lauries Mann umgebracht und sich danach irgendwo in der Nähe hingekauert, um auszuspähen, ob sich noch eine weitere Person dem Grabmal näherte.
Als sie bei Laurie anlangte - aber noch ehe sie die junge Frau aus dem Weg stoßen konnte -, schwang der Mann sein Schwert. Der dunkle, undeutliche Schatten der Klinge schlitzte Laurie die Kehle auf und hätte sie um ein Haar enthauptet. Spritzer warmen Blutes klatschten Jennsen seitlich gegen das Gesicht.
Das Grauen wich augenblicklich ihrem aufblitzenden Zorn. Erwartet hatte sie vielleicht Angst oder Panik, doch was urplötzlich in ihr hochstieg, war glühend heiße Wut, ein Zorn, den sie zum ersten Mal verspürt hatte, als vor langer Zeit plötzlich irgendwelche Fremde wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und ihre Mutter brutal umgebracht hatten.
Noch ehe das Schwert seinen mörderischen Hieb vollendet hatte, sprang Jennsen aus dem Dunkel hervor, warf sich auf den Mann und rammte ihm ihr Messer mitten in die Brust. Er konnte nicht einmal überrascht zurückweichen, da hatte sie es bereits wieder herausgezogen, mit festem Griff gepackt und ihm dreimal in schneller Folge in den Hals gestochen. Immer noch wie eine Furie auf ihn einstechend, folgte sie ihm hinunter bis zum Boden und ließ erst von ihm ab, als sein Atem röchelnd zum Erliegen kam.
In der plötzlichen Stille versuchte sie keuchend wieder zu Atem * zu kommen, bemüht, sich vom Schock der Ereignisse nicht völlig lähmen zu lassen. Wenn es einen Posten gab, gab es vermutlich auch noch mehr. Sie wusste sicher, dass sich jemand unten in der Grabstätte befand, und das bedeutete, dass sie sich von der Stelle entfernen musste, wo Laurie eben noch geschrien hatte.
Sie erteilte sich selbst den Befehl, sich von der Stelle zu rühren. Bewegung war jetzt ihre beste Verteidigung, sie bedeutete Überleben. Den Oberkörper tief geduckt, begann sie, sich seitlich fortzuschleichen, stets ein Auge auf dem Lichtstrahl, der aus der Grabstätte drang, stets Ausschau haltend, ob jemand aus dem Grab hervorkam, um nach dem Lärm zu sehen, der die Toten entdecken würde.
Plötzlich tauchte aus dem Schwarz der Nacht ein zweiter Mann auf und wuchs unmittelbar vor ihr aus dem Gras.
Jennsen wechselte den Griff am Messer und fasste es wie zum Kampf. Mit wild pochendem Herzen blickte sie um sich, ob noch aus einer anderen Richtung Gefahr drohte.
Sie ignorierte den Befehl des Mannes, stehen zu bleiben, und täuschte eine rasche Linksbewegung an. Als er sich in diese Richtung warf und sie zu packen versuchte, wälzte sie sich stattdessen nach rechts. Angelockt von den Schreien des zweiten, tauchte ein weiterer Mann aus der Dunkelheit auf und schnitt ihr den Fluchtweg zu dieser Seite hin ab. Der Lichtschein aus der Grabstätte spiegelte sich matt auf den Gliedern des Kettenhemdes, das seine Brust bedeckte, und auf der Axt in seiner fleischigen Faust. Das Haar hing ihm in langen, fettigen Strähnen bis über die Schultern.
Sie ermahnte sich, an sein Kettenhemd zu denken, falls sie gezwungen sein würde, sich gegen ihn zu wehren. Gegen eine solche Panzerung war ihr Messer mehr oder weniger nutzlos. Sie musste eine verwundbare Stelle finden. Erst jetzt dämmerte ihr, welches Glück sie gehabt hatte, dass der Soldat, mit dem sie gekämpft und der Laurie getötet hatte, keinen Kettenpanzer getragen hatte.
Sie verspürte den verzweifelten Drang, kehrtzumachen und in blinder Panik fortzulaufen, wusste aber, dass dies ein Fehler wäre. Weglaufen weckte den Jagdinstinkt. Einmal geweckt, ergriff er von solchen Männern so vollends Besitz, dass sie nicht mehr haltmachen würden, bis sie ihre Beute erlegt hätten.
Beide Soldaten erwarteten, dass sie in die für sie scheinbar offene Richtung laufen würde - nach links. Stattdessen hielt sie genau auf sie zu, in der Absicht, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen und ihrer sich schließenden Zange zu entgehen. Der nähere der beiden, von dem sie wusste, dass er einen Kettenpanzer trug, hatte seine Axt zum Schlag bereit. Noch bevor er ausholen und zuschlagen konnte, schlitzte sie ihm die Innenseite seines entblößten Armes auf. Unmittelbar oberhalb des Handgelenks durchtrennte ihre rasiermesserscharfe Klinge die Muskeln seines Unterarms. Das leise Schnappen der unter Spannung stehenden Sehnen war nicht zu überhören.
Er stieß einen Schrei aus. Außerstande, seine Axt länger festzuhalten, ließ er sie fallen. Jennsen packte sie, tauchte unter dem zweiten Kerl weg, als dieser sich auf sie warf, wirbelte herum und schlug sie ihm im Vorüberfliegen in den Rücken.
Dann krabbelte sie auf allen vieren davon, während sich der eine seinen unbrauchbaren rechten Arm hielt und der andere mit einem Axtgriff im Kreuz zu ihr herumfuhr. Immer noch auf sie zuhaltend, wankte er ein paar Schritte, ehe er nach Atem japsend auf ein Knie sank. Das gurgelnde Geräusch seines Atems verriet ihr, dass sie zumindest seine Lunge durchbohrt haben musste. Da klar war, dass er in diesem Zustand nicht mehr kämpfen konnte, richtete sie ihr Augenmerk auf etwas anderes. Dies war ihre Chance zu fliehen. Sie ergriff sie ohne Zögern. Fast augenblicklich türmte sich eine Wand aus Soldaten vor ihr auf. Jennsen blieb abrupt stehen. Urplötzlich kamen sie von allen Seiten. Aus den Augenwinkeln sah sie durch den Lichtschein husehende Schatten, als Gestalten aus dem Innern des Grabmals nach draußen hasteten.
»Entscheide dich«, meinte der Mann genau vor ihr mit barscher Stimme.
»Dich abzustechen wäre uns ein Vergnügen. Andernfalls schlage ich vor, du gibst mir einfach das Messer.«
Jennsen erstarrte, wog ihre Chancen ab. Ihr Verstand schien ihr den Dienst zu versagen.
In der Ferne konnte sie sich vor dem Licht als Umrisse abzeichnende Gestalten sehen, die aus der Grabstätte in ihre Richtung gelaufen kamen. Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. »Das Messer«, wiederholte er drohend.
Jennsen schwang den Arm herum und durchbohrte ihm die Handfläche. Im selben Moment, da er zurückzuckte, riss auch sie die Klinge zurück, so dass sie seine Hand zwischen den beiden mittleren Fingern teilte. Während die Nachtluft von einem Schwall von Verwünschungen widerhallte, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und schlüpfte durch die größte Lücke im Ring aus Soldaten in das dahinterliegende Dunkel. Sie hatte kaum drei Schritte zurückgelegt, als sich ein Arm um ihre Hüfte legte und sie so abrupt zurückriss, dass ihr die Luft hörbar aus den Lungen gepresst wurde. Der Soldat zog sie zu sich an seine Lederrüstung. Jennsen rang nach Atem.
Bevor er ihre wild um sich schlagenden Arme bändigen konnte, bohrte sie ihm die Klinge in den Oberschenkel. Die Spitze stieß gegen den Knochen und blieb stecken. Unter lautem Fluchen gelang es ihm schließlich, ihre Arme zu fassen zu bekommen und sie ihr seitlich an den Körper zu pressen.
Tränen der Angst und Verzweiflung stachen ihr in den Augen. Sie würde sterben, hier, mitten auf einem Friedhof - und ohne jemals Tom wiederzusehen. Nichts sonst war ihr in diesem Moment wichtig, nichts sonst zählte. Nie würde er erfahren, was ihr widerfahren war, nie würde sie ihm ein letztes Mal ihre Liebe gestehen können. Mit einem Ruck zog der Soldat das Messer aus seinem Bein. Sie unterdrückte ein Schluchzen über ihren ungeheuren Verlust, den Verlust all dieser Menschen.
Sie erwartete, dass die Männer sie in Stücke reißen würden, doch ehe es dazu kommen konnte, erschien jemand mit einer Laterne. Es war eine Frau, die außer der Laterne noch etwas anderes in der Hand hielt. Sie blieb vor Jennsen stehen, legte die Stirn in Falten und verschaffte sich einen Überblick über die Situation.
»Seid still«, wies sie den Soldaten zurecht, der sich fluchend noch immer seine blutverschmierte Hand hielt.