»Das Miststück hat mich in die Hand gestochen!«
»Und mich ins Bein!«, setzte der Kerl hinzu, der Jennsen festhielt. Die Frau blickte kurz zu den nahebei liegenden Körpern hinüber. »Sieht ganz so aus, als könntet ihr noch von Glück reden.«
»Schon möglich«, murmelte der, der Jennsen hielt, schließlich. Unter ihrem unerbittlichen Blick war ihm sichtlich unbehaglich zumute.
»Und mir hat sie die Hand fast entzweigeschnitten!«, warf der dritte ein, offenbar noch immer nicht gewillt, die Gleichgültigkeit der Frau gegenüber ihren Schmerzen einfach hinzunehmen. »Dafür wird sie bezahlen!«
Die Frau warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Du hast nur eine Aufgabe: den Zielen der Imperialen Ordnung zu dienen. Wie willst du das schaffen, wenn du ein Krüppel bist? Jetzt halt den Mund, oder ich denke nicht mal daran, dich zu heilen.«
Als er in stummem Einverständnis den Kopf hängen ließ, löste die Frau schließlich ihren zornigen Blick und richtete ihr Augenmerk auf Jennsen. Die Laterne höher haltend, beugte sie sich ein wenig vor, um Jennsens Gesicht besser betrachten zu können. In diesem Moment erkannte Jennsen, dass der andere Gegenstand in ihrer Hand ein Buch war, wahrscheinlich eines, das sie aus dem geheimen Lager gestohlen hatte.
»Erstaunlich«, meinte sie wie zu sich selbst, während sie Jennsens Augen betrachtete. »Da stehst du genau vor mir, und doch sagt mir meine Gabe, du bist gar nicht da.«
Jennsen dämmerte, dass die Frau eine Hexenmeisterin sein musste, vermutlich eine der Schwestern in Jagangs Diensten. Die Kräfte einer solchen Frau oder eines anderen, der Magie besaß, vermochten ihr unmittelbar nichts anzuhaben, was allerdings unter den gegebenen Umständen nicht hieß, dass sie ihr nicht gefährlich werden konnte. Schließlich war keine Magie vonnöten, um den Soldaten den Befehl zu geben, sie zu töten.
Die Frau begutachtete das Messer und betrachtete das Zeichen auf dem Griff. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie die Bedeutung des verzierten Buchstabens »R«, das Symbol des Hauses Rahl, erblickte, der in den silbernen Griff eingraviert war.
Als sie ihre Augen wieder zu Jennsen hob, waren sie erfüllt von grimmiger Erkenntnis. Überraschenderweise ließ sie das Messer fallen. Es blieb zu ihren Füßen im Boden stecken, als sie sich mit den Fingern einer Hand an die Stirn fasste und dabei zusammenzuckte, als hätte sie Schmerzen. Stumm wechselten die Soldaten einen Blick. Als sie erneut aufblickte, war ihr Gesicht ausdruckslos. »Sieh einer an, wenn das nicht Jennsen Rahl ist.« Ihre Stimme war wie verwandelt, sie klang tiefer und enthielt einen bedrohlich maskulinen Unterton. Jetzt war es an Jennsen, verwundert die Stirn zu runzeln. »Ihr kennt mich?«
»Aber ja, Schätzchen, und wie ich dich kenne«, antwortete die Frau plötzlich mit tiefer, heiserer Stimme. »Ich meine mich zu erinnern, du hättest mir geschworen, Richard Rahl zu töten.«
Jetzt begriff sie. Dies war Kaiser Jagang, der sie mit den Augen dieser Frau sah, der Traumwandler.
»Und was ist aus deinem Versprechen geworden?«, fragte sie mit einer Stimme, die eindeutig nicht die ihre war. Auch waren ihre Bewegungen marionettenhaft und schienen ihr starke Schmerzen zu bereiten. Jennsen war nicht sicher, ob sie nun mit dieser Frau oder mit Jagang sprach. »Ich habe versagt.«
Die Lippen der Frau verzogen sich spöttisch. »Versagt?« »Richtig. Ich habe versagt.« »Und was ist mit Sebastian?« Jennsen schluckte. »Er ist gestorben.«
»Gestorben«, äffte die Stimme sie nach. Die Frau trat einen Schritt näher, neigte den Kopf zur Seite und musterte sie mit einem wütenden Blick. »Und wie ist er gestorben, Schätzchen?«
»Durch seine eigene Hand.«
»Und warum sollte jemand wie Sebastian sich selbst das Leben nehmen?«
Hätte der hünenhafte Soldat sie nicht an seine Brust gepresst, Jennsen wäre einen Schritt zurückgewichen. »Vermutlich war es seine Art zu sagen, dass er nicht länger ein Stratege des Kaisers und der Imperialen Ordnung sein wollte. Vielleicht hatte er erkannt, dass sein Leben unrettbar vertan war.«
Die Frau funkelte sie an, enthielt sich aber einer Bemerkung. Nun bemerkte Jennsen den matten, goldenen Schimmer, der von dem Buch in der Hand der Frau mit der Laterne ausging, und konnte eben gerade den in verblassten, abgenutzten Buchstaben aufgeführten Titel erkennen.
Das Buch der gezählten Schatten stand dort zu lesen. Ein Tumult bewog alle, sich herumzudrehen. Einige Soldaten hatten alle Hände voll zu tun, weitere Gefangene herbeizuschleifen. Als sie in den Lichtkreis traten, verließ Jennsen aller Mut. Die Soldaten hatten Anson, Owen und dessen Frau Marilee in Gewahrsam. Alle drei sahen übel mitgenommen aus und waren blutverschmiert.
Die Frau bückte sich und hob Jennsens Messer auf.
»Seine Exzellenz hat entschieden, dass er möglicherweise Verwendung für diese Leute hat«, erklärte sie im Aufrichten, ehe sie mit dem Messer auf sie wies. »Nehmt sie mit.«
16
Als jemand hinter ihr ihren Namen rief, blieb Nicci stehen und drehte sich um. Es war Nathan, dicht gefolgt von Ann, die, um mithalten zu können, für jeden seiner ausgreifenden Schritte deren drei zurücklegen musste.
Ihre Schritte hallten auf dem goldgelben und braunen Marmorboden des verlassenen Flures wider. Der vergleichsweise schlichte Flur war Teil der Privatgemächer innerhalb des Palasts, die von Lord Rahl, seinen Bediensteten und Beamten und natürlich den Mord-Sith genutzt wurden. Es war ein Flur von schmuckloser Zweckdienlichkeit, ohne jeden Anschein von Prunk.
In ihrem bescheidenen grauen, bis zum Hals zugeknöpften Gewand wirkte Ann auf Nicci nicht anders als damals, als sie noch ein Kind gewesen war. Klein und von gedrungener Statur, erinnerte sie an eine über die Landschaft dahineilende Gewitterwolke, aus der jeden Moment ein Blitz hervorzucken konnte. Damals, als Nicci als junge Novizin in den Palast der Propheten geschickt worden war, war sie in ihrer Erinnerung eine überaus imposante und bedrohliche Erscheinung gewesen.
Annalina Aldurren war seit jeher eine Frau gewesen, die es verstand, jemandem allein mit ihrem steinernen Blick ein stammelndes Geständnis zu entlocken. Jungen Novizinnen flößte sie Entsetzen, jungen Zauberern nackte Angst und den meisten Schwestern bange Verzagtheit ein. Als Novizin war Nicci überzeugt gewesen, der Schöpfer höchstselbst bewege sich in Gegenwart der bedrohlichen Prälatin wie auf rohen Eiern und achtete obendrein auf seine Manieren.
»Wir wurden benachrichtigt, dass Ihr soeben von der Burg der Zauberer eingetroffen seid«, verkündete der Prophet mit seiner tiefen, kraftvollen Stimme, als er und Ann Nicci und Cara eingeholt hatten. Nathan war trotz seiner nahezu eintausend Jahre noch immer auf herbe Art gutaussehend. Mit Richard hatte er die Züge der Rahls gemein, unter anderem seine Habichtstirn, seine Augen dagegen waren im Gegensatz zu Richards grauen von einem wundervollen, tiefen Blau. Trotz seines hohen Alters hatte der Prophet einen kraftvollen, zielstrebigen Gang. Nachdem er unzählige Jahre unter dem Bann des Palasts der Propheten gestanden hatte, der die dort Lebenden langsamer altern ließ, würde er nun, nach dessen Zerstörung, wie Ann und Nicci, genau so altern wie jeder andere auch.
Als Gefangener in den Gemächern des Palasts der Propheten war er in Niccis Erinnerung stets in Gewänder gehüllt gewesen, jetzt dagegen trug er braune Hosen sowie ein weißes Rüschenhemd unter einer dunkelgrünen Weste. Der Saum seines kastanienbraunen Umhangs reichte fast bis auf den Boden und umspielte seine Stiefel, als er jetzt stehen blieb. In diesem Aufzug bot er eine eindrucksvolle Erscheinung. An seiner Hüfte trug er - warum, vermochte sich Nicci beim besten Willen nicht vorzustellen - ein in einer eleganten Hülle steckendes Schwert, eine Waffe, die Zauberer eigentlich nicht benötigten. Andererseits hatte er als einziger Prophet während der letzten Jahrhunderte, von dem die Bewohner des Palasts Kenntnis hatten, schon immer als einigermaßen unergründlicher Charakter gegolten. Nicht wenige der Schwestern im Palast hatten Nathan damals für verrückt gehalten, viele hatten ihn sogar gefürchtet. Nicht, weil er ihnen Anlass dazu gegeben hätte, sondern weil sein bloßer Anblick ihre blühenden Phantasien zu bestätigen schien. Nicci hatte keine Ahnung, ob sie ihre Meinung in diesem Punkt mittlerweile geändert hatten, sie wusste nur, dass eine große Zahl von ihnen sich ernstlich sorgte, weil er nicht länger hinter mächtigen Schilden weggeschlossen war. Während einige ihn harmlos, wenngleich etwas seltsam fanden, hielten die meisten Schwestern des Lichts ihn für den gefährlichsten Mann überhaupt. Nicci dagegen sah ihn jetzt in einem völlig neuen Licht.