Wenn sich Jagang in seinen Racheversprechungen erging, betrachtete ihn Kahlan nur mit leerem Blick. Es war ihre Art, sich gefühlsmäßig gegen ihn abzuschirmen. Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, Zeuge ihrer Gefühle, ihrer Angst zu werden. Ungeachtet der Folgen war sie stolz darauf, sich die Abscheu dieses Mannes verdient zu haben. Es gab ihr die Zuversicht, dass ihre Überzeugungen, was immer sie in der Vergangenheit getan haben mochte, sie nur zu einer aufrichtigen Gegnerin der Ziele der Imperialen Ordnung gemacht haben konnten. Wegen Jagangs scheußlicher Racheschwüre hatte Kahlan größte Angst, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern. Doch jetzt, da sie die freimütigen Gefühle in den Augen dieses Gefangenen gesehen hatte, sehnte sie sich danach, alles über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Seine freudige Reaktion bildete einen krassen Gegensatz zu der aller anderen ringsum, die für sie nur Abscheu und Verachtung empfanden. Sie musste unbedingt herausfinden, wer sie war, wer die Frau war, die sich die Wertschätzung dieses Mannes verdient hatte.
Gern hätte sie den Mann länger angesehen als nur diesen einen kurzen Augenblick. Sie hatte sich jedoch rasch abwenden müssen, denn wäre sie dabei ertappt worden, dass sie sich für einen Gefangenen interessierte, hätte Jagang ihn zweifellos getötet. Sie hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Einen Menschen, der sie kannte und der von ihrem Anblick so offenkundig überwältigt war, wollte sie nicht durch eine Unachtsamkeit in Gefahr bringen.
Abermals versuchte Kahlan ihre fieberhaften Gedanken zu beruhigen. Gähnend betrachtete sie das Flackern der Blitze in dem winzigen Ausschnitt des dunklen Himmels. Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, und sie brauchte dringend Schlaf.
Doch mit der Dämmerung würde der erste Tag des Winters heraufziehen, und dieser Gedanke beunruhigte sie, warum, wusste sie nicht. Irgendetwas am ersten Tag des Winters schnürte ihr vor Sorge die Eingeweide zusammen. Es war, als lauerten Gefahren unter der Oberfläche ihres Erinnerungsvermögens, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochte.
Das Geräusch eines umstürzenden Gegenstandes ließ sie den Kopf heben. Der Lärm war aus dem Vorraum gekommen, dem Raum vor Jagangs Schlaf gemach. Sie stützte sich auf einen Ellbogen, wagte aber nicht, ihren Platz auf dem Fußboden neben dem Bett des Kaisers zu verlassen. Die Folgen einer Missachtung seiner Befehle waren ihr nur zu bekannt. Wenn sie schon die Schmerzen ertragen musste, die er ihr über den Ring um ihren Hals zufügen konnte, dann wenigstens für etwas Wichtigeres als das unerlaubte Entfernen von ihrem Teppich. Sie hörte, wie sich Jagang im Dunkeln unmittelbar über ihr auf dem Bett aufrichtete.
Plötzlich brach auf der anderen Seite der wattierten Zwischenwände des Schlafgemachs ein Gewimmer und Gestöhne los. Es klang, als könnte es sich um Schwester Ulicia handeln. Seit ihrer Gefangennahme hatte Kahlan sie bereits mehrfach schluchzen und weinen hören. Nicht selten war Kahlan selbst in Tränen ausgebrochen, und stets waren diese Schwestern der Finsternis schuld daran gewesen, allen voran Schwester Ulicia.
Jagang schlug seine Bettdecke zurück. »Was geht da draußen vor?«
Kahlan wusste, dass das Vergehen, Kaiser Jagang gestört zu haben, Schwester Ulicia schon bald noch mehr Grund zum Stöhnen eintragen würde.
Jagang stieg aus seinem Bett und stellte sich breitbeinig über seine auf dem Teppich liegende Gefangene. Dabei senkte er ohne Hast den Blick, um sich zu vergewissern, dass Kahlan ihn im trüben Schein der auf der Truhe glimmenden Laterne auch ja nackt in seiner ganzen Pracht zu sehen bekam. Zufrieden über seine stumme, unausgesprochene Drohung, griff er sich seine Hosen von einem nahen Stuhl und streifte sie, bereits auf dem Weg zur Türöffnung, von einem Bein aufs andere hüpfend über. Er machte sich nicht die Mühe, sich weiter anzukleiden. Am schweren Vorhang der Türöffnung hielt er inne, wandte sich herum und winkte Kahlan mit dem Finger zu sich. Offenbar wollte er sie im Auge behalten. Als sie sich erhob, schlug er die schwere Abdeckung zurück. Kahlans Blick wanderte zur Seite, auf die letzte Gefangene, die man als Beute für den Kaiser herbeigeschleppt hatte, und die nun auf dem Bett kauerte, die Decke mit beiden Händen bis unters Kinn gezogen. Wie die meisten, so hatte auch sie Kahlan nicht gesehen und am Abend zuvor verängstigt und verwirrt reagiert, als Jagang sich mit dem Phantom unterhielt, das offenbar das Zimmer mit ihm teilte. Es war an jenem Abend noch ihr geringster Grund gewesen, sich zu ängstigen.
Ein schmerzhaftes Kribbeln breitete sich entlang den Nervenbahnen in Kahlans Schultern und Armen aus - Jagangs ihr über den Halsring vermittelte Warnung, bei der Ausführung seiner Anordnungen nicht zu trödeln. Sie ließ sich die ungeheuren Schmerzen nicht anmerken und eilte ihm hinterher.
Draußen im Vorraum bot sich ihr ein verwirrender Anblick. Schwester Ulicia wälzte sich wild mit den Armen schlagend am Fußboden und gab ein unverständliches, von Stöhnen und Geschrei unterbrochenes Gebrabbel von sich. Bei ihren Füßen stand über sie gebeugt Schwester Armina und folgte den Bewegungen der am Boden liegenden Frau, hin und her gerissen zwischen der Angst, sie anzufassen, es nicht zu tun und der Frage, was denn nur das Problem sein könnte. Sie schien Schwester Ulicia in die Arme nehmen und beruhigen zu wollen, um zu verhindern, dass sie einen Tumult verursachte, der die Aufmerksamkeit des Kaisers erregte, hatte aber noch nicht begriffen, dass es dafür längst zu spät war. Litt normalerweise eine der beiden irgendwelche Schmerzen, dann solche, die Jagang ihnen über die Kontrolle ihres Verstandes zufügte, doch nun stand er selbst daneben und betrachtete das seltsame Schauspiel, sichtlich unschlüssig, was dieses Verhalten verursacht haben könnte.
Bereits über die sich am Boden wälzende Frau gebeugt, bemerkte Schwester Armina plötzlich Kaiser Jagang und verbeugte sich noch tiefer.
»Ich habe keine Ahnung, was ihr fehlt, Exzellenz. Es tut mir leid, dass sie Euern Schlaf gestört hat. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen.«
Als Traumwandler brauchte Jagang mit denen, deren Verstand seiner Kontrolle unterlag, nicht zu sprechen. Sein Bewusstsein konnte nach Belieben zwischen ihren intimsten Gedanken umherwandern. Schwester Ulicia warf sich herum und stieß mit ihrem ungezügelt um sich schlagenden Arm einen Stuhl um. Die Wachen - jene Männer, die man eigens ausgewählt hatte, weil sie zu den wenigen gehörten, die Kahlan sehen konnten und sich an sie erinnerten - hatten einen Kreis um die sich am Boden wälzende Frau gebildet. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Kahlan das Zelt nur in Jagangs Begleitung verließ, die Schwestern fielen nicht in ihre Verantwortung. Andere Gardesoldaten, die Leibwache Jagangs - brutal aussehende Hünen, über und über mit Tätowierungen und die Haut durchbohrenden Metallstiften bedeckt -, harrten Statuen gleich neben der Türöffnung des Zeltes aus. Sie hatten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass niemand unaufgefordert das Zelt betrat, und zeigten sich nur mäßig interessiert an dem, was sich soeben mitten unter ihnen abspielte.
Die Schwestern, Hexenmeisterinnen allesamt, waren Jagangs persönliche Waffen und sein Privatbesitz, und als solche mit einem Ring in ihrer Unterlippe gekennzeichnet. Sie fielen nicht in die Verantwortung irgendwelcher Wachen, es sei denn, es existierte eine gesonderte Anweisung. Jagang hätte Schwester Ulicia die Kehle durchschneiden, sie vergewaltigen oder zum Tee einladen können, keiner aus seiner Elitegarde hätte auch nur mit der Wimper gezuckt. Hätte der Kaiser nach Tee verlangt, so hätten ihn die Sklaven pflichtschuldig serviert. Und hätte er unmittelbar vor ihren Augen einen Mord begangen, hätten sie gewartet, bis er fertig gewesen wäre, und die Schweinerei anschließend beseitigt, ohne dass ein Wort über ihre Lippen gekommen wäre. Als Schwester Ulicia zum wiederholten Male aufschrie, erkannte Kahlan, dass es entgegen ihrer ursprünglichen Annahme keineswegs so aussah, als habe sie Schmerzen. Vielmehr schien sie ... besessen zu sein. Jagangs albtraumhafter Blick wanderte von einem Gardisten zum nächsten. »Hat sie irgendwas gesagt?«