An dem Platz jedoch, an dem sich Silly niedergelassen hatte, war davon nichts zu spüren. Hier war noch alles bei der Arbeit. Riesige Drehkräne entluden Schiffe; Boten fuhren auf Fahrrädern vorbei und kreuzten die schwerfällig dahinkriechenden, mit Kohlen- oder Ölfeuerung angetriebenen Fahrzeuge.
Etwa eine halbe Stunde saß der Junge so da, dann erhob er sich, streifte scheinbar planlos quer durch die Kais, las dabei überall kleine Kieselsteine auf, die aufzuheben ihm unendliches Vergnügen zu bereiten schien.
Schließlich machte er vor einer Steintreppe halt, deren flache Stufen direkt ins grüne Wasser des Hafenbeckens führten. Vorsichtig stieg er die Stufen hinab, setzte sich auf die letzte und warf seine Kieselsteine ins Wasser, wobei er äußerst interessiert die konzentrischen Kreise betrachtete, die ihr Eintauchen ins Wasser auslöste.
Wenn irgend jemand Silly beobachtet hätte, so würde er zweifellos angenommen haben, daß sich dieser Tölpel einem sehr kindlichen Zeitvertreib widmete. Aber der Kleine hatte eine bestimmte Idee. Plötzlich verlor sich sein stumpfer Gesichtsausdruck. Sorgfältig beobachtete er seine Umgebung. Doch niemand kümmerte sich um den armen Vagabunden. Zwei vorübergehende Matrosen warfen ihm einen mitleidigen Blick zu.
»Der kleine Kerl träumt vor sich hin«, sagte der eine.
»Meinst du, das kann er?« erwiderte der andere. »Wie soll man denn ohne Gehirn träumen?«
Und sie entfernten sich, ohne daß Silly durch eine Bewegung verraten hätte, daß er sie wohl gehört hatte.
Mit einemmal beugte sich der Junge nach vorn. Seine Hand tauchte ins Wasser und schien nach irgend etwas zu greifen. Dann kam sie wieder zum Vorschein und hatte einen Korken umfaßt, der an einer Schnur hing. Die Schnur war straff gespannt, man hätte annehmen können, ihr anderes Ende wäre am Grunde des Hafenbeckens festgemacht.
Ein neuerlicher prüfender Blick strich über die Kais, und der Junge zog den Gegenstand aus seiner Tasche, den ihm James Pack in die Hand gedrückt hatte. Das war ein kleiner Zylinder aus Weißblech, der in der Sonne glitzerte. Silly befestigte ihn sorgfältig an dem Korken und zog dreimal an der Schnur. Zehn Sekunden verstrichen, dann glitt ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des Jungen. Der Metallzylinder schwamm auf dem Wasser, bis er mit einemmal trudelnd unterging.
Silly hatte noch einige Kieselsteine. Er warf sie nacheinander ins Wasser und starrte scheinbar gedankenverloren den Kreisen hinterher, die sie bildeten. In Wirklichkeit ruhten seine grünen Augen jedoch auf einem Signalmast an der Hafeneinfahrt, der soeben das Einlaufen eines Passagierdampfers in Sydney-Cove anzeigte. Der Kleine erhob sich sofort, stieg die Treppe empor und folgte der Uferböschung bis zum Circular Quay. Sein Umherschlendern hatte jetzt ein festes Ziel. Er sah zu, wie die Passagiere den Dampfer, der aus Europa kam, verließen.
Ohne sich zu beeilen, ging er auf das Schiff zu, wich hier und da Kisten und Ballen aus, die sich am Kai stapelten, grüßte mit einem Kopfnicken einige Seeleute, die ihn kannten und ein freundliches, wenn auch mitleidiges »Wie geht’s?« hören ließen. Er pfiff zerstreut eine Melodie vor sich hin und zuckte plötzlich zusammen, als er neben einem Wachposten, der auf dem Kai stand, James Pack entdeckte, der mit ebendiesem Polizisten schwatzte. Er wollte seinen Weg möglichst unbemerkt fortsetzen, aber der Sekretär von Sir Toby Allsmine hatte ihn schon erspäht und sprach ihn an.
»Hallo, Silly.«
»Guten Tag, Sir.«
»Du bist also nicht bei Lady Allsmine geblieben?«
»Nein. Freiheit schmeckt besser.«
»Möchtest du trotzdem heute abend mit mir spazierengehen?«
»Oh, das will ich gern.«
»Fein! Dann sei genau neun Uhr vor dem Haus in der Paramata Street.«
»Vor dem Haus der Dame?«
»So ist es. Ich werde dich zum Fest der Docker mitnehmen.«
Der Kleine klatschte in die Hände.
»Zum Fest der Docker, mit den vielen Buden und dem Velodrom?«
»Genau. Also bis heute abend, Silly.«
»Bis heute abend, Sir.«
Und während Silly seinen Spaziergang fortsetzte, murmelte der Bucklige dem Polizeiposten ins Ohr: »Sie sehen, Mr. Warn, ich entgelte es dem Jungen, daß er uns auf die Spur von Triplex geführt hat, und dann kann er uns vielleicht auch helfen, den Mann zu finden, der ihm die Plakate gegeben hat.«
Der Polizist nickte zustimmend und blickte dem einfältigen Burschen hinterher, der sich schon beträchtlich von ihnen entfernt und inzwischen die Gasse erreicht hatte, in der die im Hafen beschäftigte Bevölkerung zu Hause war. Hier besserten Fischer ihre Netze aus, bevor sie zum nächsten Fang ausliefen, dort lärmten Matrosen der Flotte vor einer aus Brettern errichteten Taverne, aus deren Tür Whisky- und Gindunst in die schmale Gasse strömte. Und nicht weit von dieser Stelle zeterten Händler miteinander, aber diesmal nicht wegen irgendwelcher schwer verkäuflicher Waren, sondern in Vorbereitung des abendlichen Festes.
Silly schlängelte sich zwischen den Grüppchen hindurch und stand bald darauf auf Circular Quai, an dem die mächtigen Passagierdampfer aus Übersee anlegten. Es war höchste Zeit. Das von dem Signalmast angekündigte Schiff hatte am Kai festgemacht. Und während man noch die Gangway ausklappte, drängten sich Händler, Hotelboys und Dolmetscher, um möglichst den besten Platz – und damit den lukrativsten Gast – zu ergattern.
Es war ein Durcheinander von Schreien, Püffen, Drohungen und Gelächter. Silly wurde mit einem derben Spaß begrüßt.
»Da kommt unsere Rettung!« rief ein vierschrötiger, herkulischer Kofferträger. »Verstärkung rollt an! Hierher, Einfaltspinsel, wir brauchen noch kräftige Kerle!«
Die Umstehenden grölten, denn sie fanden den Spaß prächtig. Doch der Bursche ließ sich nicht einschüchtern. Ohne auf den Spaß einzugehen, antwortete er ernsthaft: »Silly ist nicht so stark wie ein Ochse. Er kann einen Koffer tragen und ein Geldstück verdienen, von dem er sich ein Essen leisten kann, das ist alles.«
Die Kofferträger, die zwar grob, aber nicht bösartig waren, hörten auf zu lachen und schienen ein wenig betreten, weil sie ihren Scherz auf Kosten dieses an Kraft und Geist schwachen Kerlchens gemacht hatten.
Sie hätten ihm sicher gern Platz gemacht, wenn in diesem Augenblick nicht die ersten Passagiere den Kai betreten hätten. Und nun dachten diese armen Teufel, die nur hierhergekommen waren, um sich einige Pence zu verdienen, nicht mehr an andere, sondern nur an sich selbst, das heißt an die vielen Koffer, Taschen und Schachteln, die die Passagiere in Händen hielten.
Rufe schwirrten durch die Luft …
»Ein guter Gepäckträger, Lady …«
»Geben Sie mir Ihren Koffer, Gentleman …«
»Hierher, Mylord, Park-Hotel, mäßige Preise …«
»Pavillon-Hotel …, sehr komfortabel …, jeden Abend Tanzmusik, einmal in der Woche eine besondere Attraktion …«
»Blicken Sie dorthin, Mylady … Moose-Park-Hotel …, das größte, das modernste … automatischer Service … Dienstboten sind durch elektrische Apparate ersetzt …, große Sensation!«
Die dampfbetriebenen Omnibusse stießen dicke Wolken aus, während die geschicktesten der Träger das Gepäck auf dem Oberdeck schon verstaut hatten. Und inmitten dieses Tohuwabohus standen die verwirrten Reisenden, die plötzlich kein Gepäckstück mehr hatten und nun ihrerseits hinter den Trägern herliefen.