Und da alle zustimmten, begann der Abstieg. Es dauerte länger als eine Stunde, bis sie den Grund erreicht hatten. Das Licht war allmählich schwächer geworden und einem Zwielicht gewichen. Dennoch gewöhnten sie sich bald an diese Dämmerung und konnten die Gegenstände, die sie umgaben, erkennen.
Maudlin hatte sich nicht geirrt. Riesige Austern klebten an dem felsigen Gestein; viele Muscheln maßen dreißig Zentimeter im Durchmesser, und das Aufsammeln begann. Die Perlmuttmuscheln, die gewöhnt waren, in dieser Tiefe unbehelligt zu leben, waren ohne Mißtrauen. Die meisten von ihnen waren geöffnet und schwangen ihre seidigen Häutchen hin und her, um die kleinen Lebewesen, von denen sie sich ernährten, vom Wasser zu trennen. Nichts war also einfacher, als sich ihre Perlen zu nehmen. Steine, die man zwischen die Schalen schob, hinderten sie daran, zuzuschnappen, und erlaubten den neugierigen Händen zu erkunden, ob die Muschel eine Perle enthielt. Und wenn die Erkundung beendet war und man den Stein entfernte, schloß sich die Muschel mit einer Behendigkeit, die genug darüber aussagte, wie sehr sie die Verletzung ihres Domizils beeindruckt haben mußte.
Die jungen Damen sammelten insgesamt etwa dreihundert Perlen, von denen viele die Größe einer Haselnuß hatten. Das war ein wahrhaftiges Vermögen. Und um es zu erhalten, war nichts weiter vonnöten gewesen, als sich zu bücken, wie der Volksmund sagt.
Frohgelaunt traten die sechs den Rückweg an und kletterten aus dem Graben heraus. Maudlin fragte sie, ob sie ihren Spaziergang fortsetzen wollten. Keiner hatte Lust, zum Schiff zurückzukehren. Und tatsächlich fühlten sie sich alles andere als müde und bewegten sich im Wasser mit unglaublicher Leichtigkeit.
Und so setzten sie ihren Weg fort.
Einige Zeit marschierten sie, ohne daß sie auf ein Hindernis getroffen wären. Aber plötzlich blieben sie überrascht stehen. Der Umriß eines Schiffes, das auf der Wasseroberfläche schwamm, zeichnete sich deutlich wie auf einem Schirm ab, und ein Gegenstand, über dessen Natur sie sich im unklaren waren und der am unteren Ende einer Kette hing, streifte sie beinahe.
Und als sie eine Weile geschaut hatten, entdeckten sie zwei, drei, vier, acht, zehn ähnliche Schatten.
Sofort schalteten Maudlin und Robert die Telefonverbindung zu ihren Gefährten ein.
»Ihr wißt sicher«, sagte Robert, »daß die Flossen und der Schwanz des Haies in China und Indochina ein Leckerbissen für Feinschmecker sind. Die getrockneten Flossen werden zu Suppen gebraucht. Der Verzehr ist beträchtlich. Deshalb sind überall im Chinesischen Meer und im Indischen Ozean Fischer damit beschäftigt, den Hai zu angeln und zu jagen. Was ihr hier seht, ist eine dieser Flotten. Die Schiffe haben an ihrer Ankerkette einen vierzahnigen Angelhaken, an dem ein Köder hängt. Bald werden sich die ersten Haie zeigen. Bleiben wir dicht beisammen, damit wir jeden Zwischenfall ausschalten. Maudlin und ich verstehen uns auf die Handhabung unseres elektrischen Degens, wir werden aufpassen, daß uns kein Raubfisch zu nahe kommt.«
Diese Worte verursachten bei den anderen nicht gerade Vergnügen. Das war verständlich, denn jeder Bewohner unserer gemäßigten Klimazone würde fühlen, wie sich sein Herz zusammenzieht, wenn man ihn in den asiatischen Dschungel verfrachtete und er dort einem Tiger gegenüberstünde. Nun, die Begegnung mit dem Tiger der Meere, dem schrecklichen Hai, ist gewiß noch furchtbarer, wenn man hundert Fuß Wasser über sich hat.
Und so beeilte sich jeder, sich an seinen Nachbarn zu drängen und eine kompakte Gruppe zu bilden, die Joans Tochter und Robert beschützen könnte, die elektrische Klinge in der Hand.
Einige Sekunden verstrichen, dann tauchten aus dem Dunkel phosphoreszierende, funkelnde Lichter auf.
»Die Augen der Räuber«, murmelte Maudlin.
Die Augen der Haie leuchten wie die von Katzen.
Und dann zeigten sich die schwarzen, länglichen Körper. Plötzlich wand sich einer von ihnen in wilden Zuckungen und peitschte das Wasser mit seinem kräftigen Schwanz. Das Tier hatte den Köder und mit ihm den eisernen Widerhaken verschlungen. Der scharfe Haken zerriß ihm die Eingeweide. Um das Ungeheuer färbte sich das Wasser rötlich, und langsam wurde das Tier an der Leine nach oben gezogen. Jedes Gefühl bei den Zuschauern dieses Schauspiels war erloschen. Ihnen saß die Angst in den Gliedern.
Die Raubfische hatten sie gewittert. Zweifellos waren sie von der Anwesenheit jener ungewöhnlichen Erscheinungen beunruhigt. Sie umkreisten die Menschen, näherten sich und zogen sich wieder zurück. Ihre funkelnden Augen faszinierten die Gruppe.
Schließlich kam eins der Ungeheuer, entweder hungriger oder kühner als die anderen, bis auf zwei Meter an Maudlin heran. Es war ein riesiges Tier, etwa vier Meter lang, der Kopf hatte die Form eines Hammers. Unsere Freunde hatten ein Exemplar des furchtbarsten, des schrecklichsten Meeresräubers vor sich, den malaiischen Hammerhai.
Unter ihren Metallhelmen stießen sie einen Angstschrei aus, der in den Köpfen der anderen als dumpfes Murmeln widerhallte. Maudlin hatte den Arm mit der elektrischen Degenklinge ausgestreckt. Aus ihr schoß eine leuchtende Flamme; ein Knistern drang an die Ohren der übrigen Taucher. Der Hai wand sich, der Schwanz zuckte bis zum Maul, dann streckte er sich plötzlich und drehte sich um sich selbst. Mit dem Bauch nach oben stieg er langsam an die Oberfläche. Auf der Haut zeigte ein dunkler Fleck an, wo er tödlich getroffen worden war.
Maudlin drückte die Sprechverbindung ihres Telefons herab und murmelte: »Wie du siehst, Mutter, kann uns ein Hai keinen Schreck einjagen.« Und mit einem Ton, der verriet, daß sie der Vorfall doch erschreckt hatte, sagte sie, an alle gewandt: »Ich denke, daß unser Ausflug lange genug gedauert hat. Kehren wir lieber zum Schiff zurück.«
Einige Dutzend Meter von ihnen entfernt zeichnete sich der dunkle Umriß des Unterseebootes ab. Mit verständlicher Eile kamen die anderen Maudlins Vorschlag nach.
Zehn Minuten später stiegen sie durch die Luke in die Schleusenkammer. Und als das Wasser aus der Kammer herausgepreßt war, halfen ihnen die Matrosen, wieder aus den Taucheranzügen zu steigen. Sie zogen ihre Sachen an, gingen dann in den Salon und setzten sich schweigend.
Niemand hatte Lust zu sprechen. Jeder war in Gedanken noch bei dem eben beendeten Ausflug und fragte sich, ob er nicht geträumt habe. Als jedoch Joans Tochter die reiche Ausbeute an Perlen ausschüttete, waren ihre Mutter und Aurett voller Entzücken dabei, sie zu sortieren.
Allein Lotia saß gleichgültig mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht in einem Sessel. Sie wirkte erschöpft. Für sie war der Ausflug keine Zerstreuung gewesen, und ihr Herz war noch genauso traurig wie zuvor. Was sollte sie mit Perlen? Was gingen sie die Haie an? Was die bizarren Korallenriffe der unterseeischen Gräben? Umsonst versuchten Aurett und Joan unter Maudlins sachkundiger Leitung aus den schönsten Perlen ein Kollier zusammenzustellen, um damit vielleicht ihre weibliche Eitelkeit anzuregen; Lotia schien ihrem Tun keine Aufmerksamkeit schenken zu wollen. Sie interessierte sich nicht einmal mehr für ihre eigene Schönheit, als ob man ihr verwehrt hätte, sich je wieder schmücken zu dürfen.
An den folgenden Tagen fuhr man über Wasser bis zum Golf von Siam. Auf die Fragen seines Cousins antwortete Robert stets: »Ich führe den Befehl von James Pack aus. Spätestens in fünf Tagen werden wir den Strand von Poulo-Tantalam erreicht haben. Von dort stechen wir Richtung Borneo in See, denn unser Freund will uns in der Gaya-Bucht erwarten.«
Schließlich war der Tag gekommen, an dem er den Befehl ausführen konnte, den man ihm aufgetragen hatte. Das Unterseeboot näherte sich der Küste von Malakka.
»Wenn du wissen willst, was mich hergeführt hat, so kannst du mich begleiten«, sagte Robert zu seinem Cousin.