Sie brauchten gut und gern eine halbe Stunde, bis sie das von den Mollusken belegte Gebiet hinter sich hatten. Der Boden fiel sanft ab, und sie folgten einem Einschnitt, der allmählich steiler und von Felsblöcken gesäumt wurde, deren Flanken dunkle Punkte zierten. Das waren Eingänge zu Höhlen, die gefährliche Gäste beherbergen mochten.
Robert glitt plötzlich in einen engen Spalt, den zwei riesige Blöcke gebildet hatten. Er wirkte wie eine Ameise, die in den Zwischenraum von zwei Pflastersteinen gefallen ist. Die Ursache für sein Handeln war ein bläuliches Leuchten, das er am Fuße des Gesteins wahrgenommen hatte. Und er hatte sich nicht geirrt. Dort war die blaue Grabenkoralle, die bisher nur den Gelehrten bekannt war und die sicherlich einmal zu einem begehrten Sammelobjekt der Snobs werden würde. Die Seltenheit der Koralle erklärte die Beflissenheit von Armands Cousin, sie zu »pflücken«. Er wollte sie Lotia schenken und hoffte dabei ein Lächeln von ihr zu ernten.
Er hatte sich schon gebückt. Schon legte sich seine Hand um die Korallenwurzel, um sie vom Fels zu reißen, da verhielt er wie gelähmt. Ein schwerer Gegenstand umgab ihn und drückte ihn kräftig gegen einen der Basaltblöcke, zwischen die er sich leichtsinnig gekauert hatte.
Mit wachsender Angst erkannte er, was ihn an den Felsen drückte. Ein Seil. Was bedeutete das?
Er brauchte sich das nicht lange zu fragen. Ein Taucher erschien neben ihm, und über das Telefon vernahm er die Worte: »Du bist uns hinderlich. Du hast Lotias Geist verdunkelt. Stirb hier von Niaris Hand.«
Er wollte etwas sagen, den Ägypter anflehen, der ihnen nur gefolgt war, um an ihm Rache zu nehmen; aber dieser hatte bereits die Verbindung gelöscht und sich schnell entfernt, um die anderen wieder zu erreichen, deren tanzende Lampen in dem trüben Wasser kaum noch zu erkennen waren.
Eisiger Schweiß stand Robert auf der Stirn. Hatten denn seine Freunde nicht bemerkt, daß er zurückgeblieben war? Sollte er hier allein bleiben, mitten im Graben, und dreitausend Meter Wasser zwischen seinem Kopf und der Oberfläche des Ozeans?
Nein, das war nicht möglich. Ein solches Ende war zu schrecklich. Er versuchte, von seinen Fesseln loszukommen. Der Strick gab zwar etwas nach, aber er hielt. Und vor ihm wurden die Lichter immer kleiner, bis sie nur noch ein Punkt waren und schließlich ganz verschwanden.
Robert war allein, ein Gefangener der Wassermassen.
Er stieß einen stummen Schrei aus, und ihm schien, als würde ihm ein schrecklicher Druck den Kopf zusammenpressen. Er verlor das Bewußtsein. Doch er blieb aufrecht stehen, von den Stricken gehalten, die ihn an den Felsen schnürten.
Wie lange dauerte seine Ohnmacht? Er selbst hätte es nicht zu sagen vermocht. Er öffnete die Augen wieder, entsann sich des Vorfalls und warf einen entsetzten Blick um sich. Der elektrische Lichtschein über seinem Kopf schnitt ein leuchtendes Dreieck in das Dunkel des Wassers, erhellte allerdings nur Felsgestein. In dieser unterseeischen Wüste lebte allein er.
Sein Herz preßte sich zusammen, und er dachte: Ich lebe zwar, aber wie lange wohl? Bei unserem Aufbruch hatte ich Sauerstoff für zwölf Stunden. Spätestens in sechs Stunden habe ich keinen mehr …
Trotz dieser niederdrückenden Gedanken versuchte er noch einmal, seine Fesseln zu sprengen. Hoffte er auf etwas? Auf jeden Fall trieb ihn der Überlebensinstinkt dazu, alles zu versuchen. Er stieß beinahe einen Freudenschrei aus, als er feststellte, daß sich der Strick weiter lockerte. Also waren Niaris Knoten nicht die allerbesten. Zunächst vorsichtig, dann stärker führte er eine Hin-und-her-Bewegung aus, wobei er das Seil über eine Felskante schabte. Bald hatte er einen Strick durchgescheuert, ein anderer folgte, und nach kurzer Zeit gelang es dem jungen Mann, die Fesseln von seinen Gliedern zu streifen.
Etwa eine Minute lang war er von überschäumender Freude erfüllt. Er war frei, doch fast im selben Augenblick wurde ihm die Sinnlosigkeit seines Kampfes bewußt. Frei! Welch Scherz! Frei in der Weite des Pazifiks unter einem Wasserberg, der so hoch war wie der Montblanc. Seine Freiheit bestand darin, daß er sich setzen konnte, um zu sterben.
Und dennoch. Er war allein, richtig; seine Gefährten waren verschwunden, richtig; aber wenn er ihren Spuren folgte, könnte er sie vielleicht doch erreichen. Natürlich. Er mußte unter allen Umständen den eingeschlagenen Pfad wiederfinden. Er verließ sein Gefängnis endgültig, ja er steckte sogar die blaue Koralle ein. Warum sie liegenlassen, wenn er sie doch Lotia überreichen wollte. Nach fünf Minuten freilich war er wieder am Beginn seiner Hoffnungslosigkeit.
Er hatte nicht überlegt, nicht nachgedacht und machte sich deswegen jetzt Vorwürfe. Spuren …! Als ob es davon welche gäbe in dreitausend Meter Tiefe und bei einem Druck von dreihundert Atmosphären, der die stärksten Dampfmaschinen wie Kartenhäuser zusammenpressen würde.
Nein, der Boden war überall eben, ohne auch nur das Anzeichen einer Spur. Und im selben Augenblick dachte er daran, daß es James Pack und Armand ebenso ergehen würde. Vielleicht hatten sie seine Abwesenheit schon bemerkt. Aber wie sollten sie ihn suchen, wie überhaupt ihren zurückgelegten Weg wiederfinden?
Er drehte sich noch einmal um. Gewissenhaft prüfte er den Boden. Nichts. Angestrengt blickte er in das trübe Wasser. Am Rande der erleuchteten Zone glaubte er etwas zu erkennen. War das … Nein, er irrte sich nicht. Das waren keine Menschen. Nur – was war es dann?
Er war unfähig, »es« zu benennen, doch es schien ihm das Schrecklichste zu sein, was er je gesehen hatte. Es war etwas, das im trüben Wasser keine festen Konturen hatte, schattenhaft wirkte. Vielleicht war es gar nur seine Einbildung?
Instinktiv wich der Franzose zu dem Felsspalt zurück, aus dem er sich eben befreit hatte. Er glitt wieder zwischen die beiden Steine. Dort verschnaufte er erst einmal. War er hier in Sicherheit? Seine rechte Hand krampfte sich um die elektrische Klinge. Er war bereit, gegen dieses Wesen zu kämpfen, das er zwar nicht kannte, aber, dessen war er sich sicher, das ihn angreifen würde. Er fühlte, wie ihm ein eiskalter Schauer den Rücken herunterrann, wie seine Zähne kastagnettenartig klapperten; er wußte nicht, was sein Gegner war, nein, wirklich nicht. Dennoch ahnte er, es war ein Ungeheuer, das in ihm seine Beute sah.
Er mußte erst einmal dieses Tier deutlich sehen. Langsam richtete er den Strahl seiner Lampe auf die Finsternis, die ihn umgab. Er wollte es sehen – und er sah es. Es war entsetzlicher als alles was er sich je vorgestellt hatte.
Es war kein Ungeheuer, was da im. Strahl seiner Lampe vor ihm auftauchte, es war eine ganze Armee von wunderlichen, grotesken und schrecklichen Tieren. Die in allem dem Menschen überlegene Natur schien beweisen zu wollen, daß der Erfindungsreichtum eines Bosch oder Callot gegenüber ihrer Schöpfung nur armselige Kopien waren. Was die vor Schreck weit aufgerissenen Augen Roberts betrachteten, das war keine Vision des Horrors und des Wahnsinns. Das war der Horror und der Wahnsinn selbst.
Da waren riesige Krabben mit Scheren, die fähig schienen, ein Pferd zu zerschneiden, die ihre staksigen, mehrere Meter hohen Spinnenbeine langsam durch den Sand zogen … Weiter entfernt konnte er Schalentiere ausmachen, deren Körper wie der eines Hummers war, breit wie ein Faß, und in einem kleinen, schlangenartigen Schwanz endete. Von der anderen Seite näherten sich formlose Wesen, die er nicht einmal annähernd zu benennen wußte – eine schwabblige, ständig mit Lamellen wirbelnde Masse. Diese Wesen hatten eine Länge von zehn bis zwölf Metern. Sie wirkten wie riesige Taschen, die zwei Löcher hatten, in denen meergrüne Augen blitzten und unter denen sich eine größere, mit Saugnäpfen bestückte Öffnung befand … Das mußte der Schlund dieses Tieres sein. Und diese Fettmassen schlierten langsam auf den Franzosen zu.