Krabat
Otfried Preußler
Das erste Jahr
Die Mühle im Koselbruch
Es war in der Zeit zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag. Krabat, ein Junge von vierzehn Jahren damals, hatte sich mit zwei anderen wendischen Betteljungen zusammengetan, und obgleich Seine allerdurchlauchtigste Gnaden, der Kurfürst von Sachsen, das Betteln und Vagabundieren in Höchstderoselben Landen bei Strafe verboten hatten (aber die Richter und sonstigen Amtspersonen nahmen es glücklicherweise nicht übermäßig genau damit), zogen sie als Dreikönige in der Gegend von Hoyerswerda von Dorf zu Dorf: Strohkränze um die Mützen waren die Königskronen; und einer von ihnen, der lustige kleine Lobosch aus Maukendorf, machte den Mohrenkönig und schmierte sich jeden Morgen mit Ofenruß voll. Stolz trug er ihnen den Bethlehemstern voran, den Krabat an einen Stecken genagelt hatte.
Wenn sie auf einen Hof kamen, nahmen sie Lobosch in die Mitte und sangen: »Hosianna Davidssohn!« - das heißt: Krabat bewegte nur stumm die Lippen, weil er gerade im Stimmbruch war. Dafür sangen die anderen Hoheiten um so lauter, da glich sich das wieder aus.
Viele Bauern hatten auf Neujahr ein Schwein geschlachtet, sie beschenkten die Herren Könige aus dem Morgenland reichlich mit Wurst und Speck. Anderswo gab es Äpfel, Nüsse und Backpflaumen, Honigbrot manchmal und Schmalzküchlein, Anisplätzchen und Zimtsterne. »Das Jahr fängt gut an!« meinte Lobosch am Abend des dritten Tages, »so dürfte es bis Silvester weitergehen!« Da nickten die beiden anderen Majestäten gemessen und seufzten: »Von uns aus - gern!«
Die folgende Nacht verbrachten sie in der Schmiede von Petershain auf dem Heuboden; dort geschah es, daß Krabat zum erstenmal jenen seltsamen Traum hatte.
Elf Raben saßen auf einer Stange und blickten ihn an. Er sah, daß ein Platz auf der Stange frei war, am linken Ende. Dann hörte er eine Stimme. Die Stimme klang heiser, sie schien aus den Lüften zu kommen, von fernher, und rief ihn bei seinem Namen. Er traute sich nicht zu antworten. »Krabat!« erscholl es zum zweitenmal - und ein drittesmaclass="underline" »Krabat!« Dann sagte die Stimme: »Komm nach Schwarzkollm in die Mühle, es wird nicht zu deinem Schaden sein!« Hierauf erhoben die Raben sich von der Stange und krächzten: »Gehorche der Stimme des Meisters, gehorche ihr!«
Davon erwachte Krabat. »Was man nicht alles zusammenträumt!« dachte er, wälzte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Anderntags zog er mit seinen Gefährten weiter, und wenn ihm die Raben einfielen, lachte er.
Doch der Traum wiederholte sich in der Nacht darauf. Abermals rief ihn die Stimme beim Namen, und abermals krächzten die Raben: »Gehorche ihr!« Das gab Krabat zu denken. Er fragte am anderen Morgen den Bauern, bei dem sie genächtigt hatten, ob er ein Dorf kenne, das Schwarzkollm heiße oder so ähnlich.
Der Bauer entsann sich, den Namen gehört zu haben.
»Schwarzkollm ...«, überlegte er. »Ja doch - im Hoyerswerdaer Forst, an der Straße nach Leippe: da gibt es ein Dorf, das so heißt.«
Das nächstemal übernachteten die Dreikönige in Groß-Partwitz. Auch hier träumte Krabat den Traum von den Raben und von der Stimme, die aus den Lüften zu kommen schien; und es spielte sich alles genauso ab wie beim ersten und zweiten Mal. Da beschloß er, der Stimme zu folgen. Im Morgengrauen, als die Gefährten noch schliefen, stahl er sich aus der Scheune. Am Hoftor begegnete er der Magd, die zum Brunnen ging. »Grüß mir die beiden«, trug er ihr auf, »ich hab wegmüssen.«
Von Dorf zu Dorf fragte Krabat sich weiter. Der Wind trieb ihm Schneekörner ins Gesicht, alle paar Schritte mußte er stehenbleiben und sich die Augen wischen. Im Hoyerswerdaer Forst verlief er sich, brauchte zwei volle Stunden, bis er die Straße nach Leippe wiederfand. So kam es, daß er erst gegen Abend sein Ziel erreichte.
Schwarzkollm war ein Dorf wie die anderen Heidedörfer: Häuser und Scheunen in langer Zeile zu beiden Seiten der Straße, tief eingeschneit; Rauchfahnen über den Dächern, dampfende Misthaufen, Rindergebrüll. Auf dem Ententeich liefen mit lautem Gejohle die Kinder Schlittschuh.
Vergebens hielt Krabat Ausschau nach einer Mühle. Ein alter Mann, der ein Bündel Reisig trug, kam die Straße herauf: den fragte er.
»Wir haben im Dorf keine Mühle«, erhielt er zur Antwort.
»Und in der Nachbarschaft?«
»Wenn du die meinst...« Der Alte deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Im Koselbruch hinten, am Schwarzen Wasser, da gibt es eine. Aber...« Er unterbrach sich, als habe er schon zuviel gesagt.
Krabat dankte ihm für die Auskunft, er wandte sich in die Richtung, die ihm der Alte gewiesen hatte. Nach wenigen Schritten zupfte ihn wer am Ärmel; als er sich umblickte, war es der Mann mit dem Reisigbündel.
»Was gibt's?« fragte Krabat.
Der Alte trat näher, sagte mit ängstlicher Miene: »Ich möchte dich warnen, Junge. Meide den Koselbruch und die Mühle am Schwarzen Wasser, es ist nicht geheuer dort...«
Einen Augenblick zögerte Krabat, dann ließ er den Alten stehen und ging seines Weges, zum Dorf hinaus. Es wurde rasch finster, er mußte achtgeben, daß er den Pfad nicht verlor, ihn fröstelte. Wenn er den Kopf wandte, sah er dort, von woher er kam, Lichter aufschimmern: hier eines, da eines.
Ob es nicht klüger war umzukehren?
»Ach was«, brummte Krabat und klappte den Kragen hoch. »Bin ich ein kleiner Junge? Ansehen kostet nichts.«
Krabat tappte ein Stück durch den Wald wie ein Blinder im Nebel, dann stieß er auf eine Lichtung. Als er sich anschickte, unter den Bäumen hervorzutreten, riß das Gewölk auf, der Mond kam zum Vorschein, alles war plötzlich in kaltes Licht getaucht.
Jetzt sah Krabat die Mühle.
Da lag sie vor ihm, in den Schnee geduckt, dunkel, bedrohlich, ein mächtiges, böses Tier, das auf Beute lauert.
»Niemand zwingt mich dazu, daß ich hingehe«, dachte Krabat. Dann schalt er sich einen Hasenfuß, nahm seinen Mut zusammen und trat aus dem Waldesschatten ins Freie. Beherzt schritt er auf die Mühle zu, fand die Haustür verschlossen und klopfte.
Er klopfte einmal, er klopfte zweimaclass="underline" nichts rührte sich drinnen. Kein Hund schlug an, keine Treppe knarrte, kein Schlüsselbund rasselte - nichts.
Krabat klopfte ein drittesmal, daß ihn die Knöchel schmerzten.
Wieder blieb alles still in der Mühle. Da drückte er probehalber die Klinke nieder: die Tür ließ sich öffnen, sie war nicht verriegelt, er trat in den Hausflur ein.
Grabesstille empfing ihn und tiefe Finsternis. Hinten jedoch, am Ende des Ganges, etwas wie schwacher Lichtschein. Der Schimmer von einem Schimmer bloß.
»Wo Licht ist, werden auch Leute sein«, sagte sich Krabat.
Die Arme vorgestreckt, tastete er sich weiter. Das Licht drang, er sah es im Näherkommen, durch einen Spalt in der Tür, die den Gang an der Rückseite abschloß. Neugier ergriff ihn, auf Zehenspitzen schlich er sich zu der Ritze und spähte hindurch.
Sein Blick fiel in eine schwarze, vom Schein einer einzigen Kerze erhellte Kammer. Die Kerze war rot. Sie klebte auf einem Totenschädel, der lag auf dem Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. Hinter dem Tisch saß ein massiger, dunkelgekleideter Mann, sehr bleich im Gesicht, wie mit Kalk bestächen; ein schwarzes Pflaster bedeckte sein linkes Auge. Vor ihm auf dem Tisch lag ein dickes, in Leder eingebundenes Buch, das an einer Kette hing: darin las er.
Nun hob er den Kopf und starrte herüber, als habe er Krabat hinter dem Türspalt ausgemacht. Der Blick ging dem Jungen durch Mark und Bein. Das Auge begann ihn zu jucken, es tränte, das Bild in der Kammer verwischte sich.
Krabat rieb sich das Auge - da merkte er, wie sich ihm eine eiskalte Hand auf die Schulter legte, von hinten, er spürte die Kälte durch Rock und Hemd hindurch. Gleichzeitig hörte er jemand mit heiserer Stimme auf wendisch sagen: