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»Hier müßte es sein«, sagte Krabat.

Sie tasteten sich am Waldrand von Föhre zu Föhre. Krabat war froh, als er endlich den kantigen Stamm des Holzkreuzes mit den Fingern berührte.

»Zu mir her, Juro!«

Eilends kam Juro herbeigestolpert.

»Wie du das bloß geschafft hast, Krabat - das soll dir mal einer nachmachen!«

Er kramte in seinen Taschen nach Stahl und Feuerstein, dann setzten sie eine Handvoll Reisig in Brand. Beim Schein des Feuerchens klaubten sie auf dem Waldboden Rindenstücke und dürre Äste zusammen.

»Das Nachschüren übernehme ich«, sagte Juro. »Mit Feuer und Holz kann ich umgehen, dazu reicht es gerade noch.«

Krabat hüllte sich in die Decke und setzte sich unter das Kreuz. Wie Tonda vor einem Jahr hier gesessen hatte, saß heute er da: aufrecht, mit angezogenen Knien, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.

Juro vertrieb sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Dann und wann sagte Krabat »ja« dazu, oder »ach« oder »sieh mal an!« Er sagte es auf gut Glück, ohne richtig hinzuhören. Mehr brauchte es nicht, um Juro zufriedenzustellen. Eifrig erzählte er weiter, von dem und jenem, was ihm gerade einfiel. Es schien ihm nichts auszumachen, daß Krabat kaum bei der Sache war.

Krabat dachte an Tonda - und dachte zugleich an die Kantorka. Ohne daß er es wollte, war sie ihm eingefallen. Er freute sich auf den Augenblick, da er sie würde singen hören, vom Dorf herüber um Mitternacht.

Und wenn er sie nicht hörte? Wenn ein anderes Mädchen vorsang in diesem Jahr?

Bei dem Versuch, sich die Stimme der Kantorka vorzustellen, machte er die Entdeckung, daß ihm das nicht mehr möglich war: daß sie weg war aus seinem Gedächtnis, verschwunden, ausgelöscht. Oder kam ihm das nur so vor?

Das war schmerzlich für ihn; und der Schmerz, den er da empfand, war von einer besonderen Art, die ihm neu war: als sei er an einer Stelle getroffen worden, von der er bislang nicht gewußt hatte, daß es sie gab.

Er versuchte, darüber hinwegzukommen, indem er sich sagte: »Ich habe mir nie was aus Mädchen gemacht, und so will ich es auch in Zukunft halten. Was hätte ich denn davon? Es würde mir eines Tages doch nur wie Tonda ergehen. Dann säße ich da - und das Herz ist mir schwer von Kummer. Und nachts, wenn mein Blick auf die mondhelle Heide fällt, gehe ich manchmal aus mir hinaus und suche den Ort auf, wo die, der ich Unglück gebracht habe, unterm Rasen liegt...«

Die Kunst des Aus-sich-Hinausgehens hatte Krabat inzwischen erlernt. Sie gehörte zu jenen wenigen Künsten, die anzuwenden der Meister die Burschen gewarnt hatte - »weil es leicht sein kann, daß jemand, der seinen Körper verlassen hat, nicht mehr hineinfindet«. Denn das hatte der Meister den Mühlknappen eingeschärft: aus sich hinausgehen konnte man erst nach Einbruch der Dunkelheit - und zurückkehren nur vor Anbruch des neuen Tages.

Wer sich versäumte und länger ausblieb, für den gab es kein Zurück mehr. Sein Körper blieb ihm verschlossen und wurde für tot begraben, während er selbst dann umherirren mußte, ruhelos zwischen Tod und Leben, unfähig, sich zu zeigen, zu sprechen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen - und darin lag die besondere Qual dieses Zustandes: noch der windigste Poltergeist konnte ja wenigstens klopfen, mit Töpfen klappern und Holzscheiter gegen die Wand schmeißen.

»Nein«, dachte Krabat, »ich werde mich hüten, aus mir hinauszugehen - was immer mich auch verlocken sollte.«

Juro war still geworden, er hockte am Feuer und rührte sich kaum. Wenn er nicht ab und zu einen Ast in die Glut geschoben, ein Rindenstück nachgeschürt hätte: Krabat wäre versucht gewesen zu glauben, er sei ihm davongeschlafen.

So wurde es Mitternacht.

Wieder tönten von ferne die Osterglocken, und abermals hob in Schwarzkollm eine Mädchenstimme zu singen an - die Stimme, die Krabat kannte, auf die er gewartet, nach der er vergebens in seinem Gedächtnis gesucht hatte.

Jetzt aber, da er sie hörte, fand er es unbegreiflich, wie er sie hatte vergessen können.

»Erstanden ist Der heilig Christ» Halleluja, Halleluja!«

Krabat lauscht dem Gesang der Mädchen im Dorf, wie die Stimmen sich abwechseln, erst die eine und dann die andern, und während die anderen singen, wartet er schon darauf, daß die eine sie wieder ablöst.

»Was für Haar sie wohl hat, die Kantorka?« muß er denken. »Braun vielleicht - oder schwarz - oder weizenfarben?«

Das möchte er wissen. Er möchte das Mädchen sehen, das er da singen hört, es verlangt ihn danach.

»Wenn ich aus mir hinausginge?« denkt er. »Für wenige Augenblicke nur - bloß so lang, um ihr ins Gesicht zu schauen ...«

Schon spricht er die Formel, schon spürt er, wie er sich loslöst als seinem Körper, wie er sich ausatmet, m die schwarze Nacht hinaus.

Er wirft einen Blick auf das Feuer zurück: auf Juro, der dahockt, als werde er jeden Augenblick einschlafen - auf sich selbst, wie er aufrecht sitzend am Kreuz lehnt, nicht tot, nicht lebendig. Alles, was Krabats Leben ausmacht, ist nun hier draußen, ist außerhalb. Frei ist es, leicht und unbeschwert - und sehr wach, sehr viel wacher mit allen Sinnen, als er es je gewesen ist.

Noch zögert er, seinen Körper allein zu lassen. Es gilt da, ein letztes Band zu lösen. Das fällt ihm nicht leicht, weil er weiß, daß es eine Trennung für immer sein kann. Trotzdem wendet er sich vom Anblick des Burschen am Feuer, der seinen Namen trägt, ab - und begibt sich ins Dorf.

Niemand hört Krabat, niemand vermag ihn zu sehen. Er selbst aber hört und sieht alles mit einer Deutlichkeit, die ihn staunen macht.

Singend ziehen die Mädchen mit ihren Laternen und Osterkerzen die Dorfstraße auf und ab, in der Abendmahlstracht, die schwarz ist, vom Schuh bis zum Häubchen - mit Ausnahme eines weißen Stirnbandes über dem in der Mitte gescheitelten, straff nach hinten gekämmten Haar.

Krabat verhält sich, wie Krabat sich auch verhalten hätte, wäre er sichtbar gewesen: Er gesellt sich den Dorfburschen zu, die in Gruppen zu beiden Seiten der Straße stehen, die Mädchen beobachtend. Scherzworte fallen und Zurufe.

»Könnt ihr nicht lauter singen - man hört euch kaum!«

»Aufpassen mit den Lichtern - daß ihr euch nicht die Nasen daran verbrennt!«

»Mögt ihr nicht herkommen und euch ein bißchen wärmen lassen - ihr seid ja ganz blaugefroren!«

Die Mädchen tun so, als seien die Burschen am Straßenrand nicht vorhanden für sie. Dies ist ihre Nacht, sie gehört ihnen ganz allein. Ruhig ziehen sie ihres Weges und singen, straßauf, straßab.

Später gehen sie dann in eines der Bauernhäuser zum Aufwärmen. Die Burschen versuchen nachzudrängen, der Hausvater weist sie ab. Da eilen sie an die Stubenfenster und spähen hinein. Die Mädchen umringen den Ofen, die Bäuerin reicht ihnen Osterküchlein und heiße Milch. Mehr sehen die Burschen nicht, denn gleich ist der Hausvater wieder zur Stelle, diesmal mit einem Stecken.

»Ksch!« macht er, wie man lästige Kater fortscheucht. »Weg da, ihr Kerle - oder es setzt was!«

Die Burschen verziehen sich maulend; auch Krabat folgt ihnen, der es gar nicht nötig hätte. In der Nachbarschaft warten sie, bis die Mädchen das Haus verlassen und weiterziehen.

Krabat weiß ja nun, daß die Kantorka helles Haar hat. Schmal ist sie und von hohem Wuchs, und sie hat eine stolze Art, wie sie geht und den Kopf hält. Eigentlich könnte er längst zu Juro ans Feuer zurückkehren, und das sollte er wohl.

Doch bisher ist es so gewesen, daß er die Kantorka nur aus der Ferne beobachtet hat, vom Straßenrand, und nun will er ihr in die Augen sehen.

Krabat wird eins mit dem Kerzenlicht, das die Kantorka vor sich herträgt. Nun ist er ihr nahe - so nah, wie er nie zuvor einem Mädchen gewesen ist. Er blickt in ein junges Gesicht, das sehr schön ist im strengen Rahmen von Stirnband und Häubchen. Die Augen sind groß und sanft, sie blicken auf ihn hernieder und sehen ihn nicht - oder doch?