»Nimm sie als Strafe für deinen Ungehorsam! Wenn ich dir einen Auftrag gebe, hast du ihn auszuführen - so, wie es dir befohlen ist, und nicht anders. Ein nächstesmal kommst du mir nicht so glimpflich weg, merk dir das!«
Der Meister ließ keinen Zweifel, daß es ihm tödlich ernst war mit seinen Worten.
»Und noch eins!« Nun hob er die Stimme ein wenig. »Es hindert dich niemand daran, dich an Juro schadlos zu halten - da!«
Er drückte dem Burschen die Reitpeitsche in die Hand. Dann wandte er sich zum Gehen, und wenige Schritte später erhob er sich in die Lüfte: ein Habicht, der raschen Fluges davonstob.
Humpelnd trat Krabat den Heimweg an. Alle paar Schritte mußte er stehenbleiben. Bleigewichte hingen an seinen Füßen. Alle Knochen im Leib taten weh, alle Muskeln schmerzten ihn. Als er die Wittichenauer Straße erreicht hatte, ließ er sich in den Schatten des nächsten Baumes fallen und rastete. Wenn die Kantorka ihn jetzt sähe - was würde sie sagen?
Nach einer Weile kam Juro des Weges getrottet, kleinlaut, mit schlechtem Gewissen.
»He, Juro!«
Der Dummkopf erschrak, als Krabat ihn anrief.
»Du bist das?«
»Ja«, sagte Krabat. »Ich bin das.«
Juro wich einen Schritt zurück. Er deutete mit der einen Hand auf die Reitpeitsche, während er sich die andere vors Gesicht hielt.
»Du wirst mich verprügeln, ja?«
»Das sollte ich wohl«, meinte Krabat. »Der Meister erwartet es jedenfalls.«
»Dann schnell!« sagte Juro. »Ich hab meine Tracht verdient, das ist wahr - und da hätte ich's hinter mir.«
Krabat blies sich das Haar aus der Stirn.
»Ob das Fell mir dann schneller heilte - was meinst du?«
»Aber der Meister!«
»Er hat es mir nicht befohlen«, erwiderte Krabat. »Es war bloß ein Rat von ihm. Komm her, Juro, setz dich zu mir ins Gras!«
»Wie du meinst«, sagte Juro.
Er zog aus der Tasche ein Holzstück, oder was immer es war, damit zeichnete er einen Kreis um die Stelle, an der sie rasteten; dann versah er den Kreis mit drei Kreuzen und einem Drudenfuß.
»Was tust du da?« wollte Krabat wissen.
»Ach - nichts«, sagte Juro ausweichend. »Bloß ein Schutz gegen Mücken und Schmeißfliegen, weißt du... Ich laß mich nicht gerne piesacken. - Zeig mal den Rücken her!« Damit streifte er Krabat das Hemd hoch. »O weh, hat der Meister dich zugerichtet!«
Er pfiff durch die Zähne, er kramte in seinen Taschen.
»Ich hätte da eine Salbe, die trage ich stets bei mir, das Rezept stammt von meiner Großmutter - soll ich dich damit einschmieren?«
»Wenn es was nützt ...«, meinte Krabat, und Juro versicherte:
»Schaden tut es auf keinen Fall.«
Vorsichtig strich er Krabat die Salbe auf. Sie war angenehm kühl und machte die Schmerzen rasch abklingen. Krabat hatte den Eindruck, als wüchse ihm eine neue Haut.
»Daß es so was gibt!« rief er überrascht.
»Meine Großmutter«, meinte Juro, »war eben eine kluge Frau. Wir sind überhaupt eine kluge Familie, Krabat - mich ausgenommen. Wenn ich mir vorstelle, daß du durch meine Blödheit ein Gaul hättest bleiben müssen für alle Zeiten ...« Er schüttelte sich und verdrehte die Augen.
»Hör auf!« bat ihn Krabat. »Du siehst ja, wir haben Glück gehabt.«
Einträchtig wanderten sie miteinander heimzu. Als sie den Koselbruch fast durchquert hatten, kurz vor der Mühle, fing Juro zu hinken an.
»Du mußt mithumpeln, Krabat!«
»Wieso?«
»Weil der Meister nichts von der Salbe zu wissen braucht. Niemand braucht das zu wissen.«
»Und du?« fragte Krabat. »Warum hinkst du auch?«
»Weil ich Prügel von dir bezogen habe, verrgiß das nicht!«
Wein und Wasser
Ende Juni begannen sie mit dem Bau des Wasserrades. Krabat half Staschko das alte Mühlrad vermessen. Das neue mußte in allen Teilen die gleichen Maße haben, weil sie es, wenn es fertig war, auf die vorhandene Mühlenwelle aufsetzen wollten. Hinter dem Pferdestall, zwischen Scheune und Schuppen, hatten sie ihren Zimmerplatz. Dort verbrachten sie nun die Tage damit, alles Nötige herzurichten, die Sprossen und Speichen, die Teilstücke für den Radkranz, die Streben und Schaufelbretter, wie Staschko es ihnen aufriß und anschaffte.
»Alles muß stimmen!« schärfte er den Gehilfen ein. »Damit wir beim Radhub nicht zum Gespött werden!«
An den Abenden war es jetzt lange hell, da saßen die Müllerburschen bei schönem Wetter oft vor der Mühle im Freien, und Andrusch spielte auf seiner Maultrommel.
Gern wäre Krabat um diese Zeit einmal nach Schwarzkollm gegangen. Kann sein, daß die Kantorka vor dem Haus gesessen und ihm gewinkt hätte, seinen Gruß erwidernd, wenn er vorüberschlenderte. Oder war sie vielleicht mit den anderen Mädchen beisammen, und sangen sie wieder?
An manchen Abenden, wenn der Wind von Schwarzkollm kam, glaubte er den Gesang in der Ferne hören zu können; aber das war ja wohl nicht gut möglich, über den Wald herüber.
Wenn er nur einen Vorwand gefunden hätte, um wegzukommen: einen vernünftigen, unverfänglichen Grund, der selbst Lyschkos Mißtrauen nicht geweckt hätte! Möglich, daß sich ihm eines Tages ein solcher Vorwand von selbst bot, ohne daß er damit Verdacht erregte - und ohne die Kantorka in Gefahr zu bringen.
Im Grunde genommen wußte er ja nicht viel von ihr. Wie sie aussah: das wohl. Wie sie ging und den Kopf hielt, und wie ihre Stimme klang, das wußte er nun so sicher, als ob er's von jeher gewußt hätte; und er wußte auch, daß sich die Kantorka nie wieder würde wegdenken lassen aus seinem Leben - so wenig, wie Tonda sich daraus wegdenken ließ.
Dabei kannte er nicht einmal ihren Namen.
Er fragte sich hin und wieder danach, und es machte ihm Freude, ihr einen auszusuchen: Milenka ... Raduschka... Duschenka wäre ein Name, der zu ihr passen könnte.
»Gut«, dachte Krabat, »daß ich nicht weiß, wie sie wirklich heißt. Wenn ich den Namen nicht kenne, kann ich ihn auch nicht preisgeben: wachend nicht und im Schlaf nicht, wie Tonda mir's auf die Seele gebunden hat, damals vor tausend Jahren, als wir am Feuer saßen in jener Osternacht - er und ich.«
Tondas Grab hatte Krabat noch immer nicht aufgesucht. Einmal in diesen Wochen, als er beim ersten Morgengrauen erwachte, stahl er sich aus der Mühle und lief in den Koselbruch. Tautropfen hingen an jedem Grashalm, in allen Zweigen. Wo Krabat gegangen war, hinterließ er im Gras eine dunkle Spur.
Bei Sonnenaufgang stand er am unteren Ende des Wüsten Planes, unweit der Stelle, wo sie zum erstenmal festen Boden erreicht hatten, als er mit Tonda vom Torfstich herübergekommen war. Unterwegs hatte Krabat am Rand eines Moortümpels ein paar Kuckucksblumen gepflückt, um sie Tonda aufs Grab zu legen.
Nun sah er die Reihe der flachen, länglichen Hügel vor sich in der Morgensonne: einer war wie die anderen, ohne Kennzeichen, ohne Unterschied. Hatten sie Tonda am linken Ende der Reihe begraben oder am rechten? Die Abstände zwischen den Hügeln waren nicht gleichmäßig. Möglich, daß Tondas Grabstelle irgendwo zwischendrin lag.
Krabat war ratlos. In seiner Erinnerung gab es nichts, was ihm Anhalt geboten hätte. Alles war weiß gewesen ringsum, als sie Tonda begraben hatten, eingeebnet vom Schnee.
»Es soll wohl nicht sein«, dachte Krabat.
Langsam schritt er die Reihe hinauf und legte auf jeden Hügel eine der Kuckucksblumen. Zum Schluß blieb ihm eine übrig. Er drehte den Stengel zwischen den Fingern, betrachtete sie und sagte:
»Dem nächsten, den wir hier draußen begraben werden...«
Dann ließ er die Blume fallen - und jetzt erst, während der kurzen Zeit, die sie brauchte, bis sie den Boden berührte, wurde ihm klar, was er da gesagt hatte. Krabat erschrak, doch das Wort ließ sich nicht zurücknehmen, und die Blume lag da, wo sie lag: am oberen Ende der Reihe, zwischen dem Hügel, der sich am weitesten rechts befand, und dem Waldrand.