Krabat machte sich Sorgen um Merten. Er hatte den Eindruck, daß er versuchen sollte, mit ihm zu reden. An einem der nächsten Tage ergab es sich, daß er mit Petar und ihm auf den Schüttboden mußte, Getreide umschaufeln. Sie hatten kaum richtig angefangen, als Hanzo heraufkam und Petar wegholte, in den Pferdestall.
»Macht hier einstweilen alleine weiter! Sobald unten einer frei wird, schicke ich ihn herauf.«
»Schon recht«, meinte Krabat.
Er wartete, bis sich Hanzo mit Petar entfernt und die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann stellte er seine Kornschaufel in die Ecke, und Merten die Hand auf die Schulter legend, meinte er:
»Weißt du, was Michal zu mir gesagt hat?«
Merten wandte ihm das Gesicht zu und blickte ihn an.
»Die Toten sind tot«, sagte Krabat. »Er hat es mir zweimal gesagt, und beim zweitenmal hat er hinzugefügt: Wer auf der Mühle im Koselbruch stirbt, wird vergessen, als ob es ihn nie gegeben habe; nur dann läßt sich's für die anderen weiterleben - und weitergelebt muß werden.«
Merten hatte ihm ruhig zugehört. Nun griff er nach Krabats Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag. Schweigend streifte er sie herunter, dann fuhr er in seiner Arbeit fort.
Krabat wußte sich keinen Rat mit Merten. Wie sollte er sich verhalten? Tonda hätte ihm sicherlich raten können, auch Michal vielleicht. Jetzt war Krabat auf sich allein gestellt, und das war nicht einfach.
Ein Glück, daß er Lobosch hatte!
Dem Kleinen erging es um kein Haar besser als allen Lehrjungen vor ihm. Er hätte die erste Zeit auf der Mühle kaum durchgestanden, wenn Krabat ihm nicht geholfen hätte: und Krabat half ihm.
Er wußte es einzurichten, daß er von Zeit zu Zeit bei der Arbeit mit ihm zusammentraf - nicht zu oft, und als habe der reine Zufall ihn hergeführt. Er blieb bei ihm stehen, sie wechselten ein paar Worte, er legte dem Jungen die Hand auf und flößte ihm Kraft ein: nach Tondas Beispiel, und wie er es eines Freitagabends gelernt hatte. »Aber laß dir nichts anmerken!« hatte er Lobosch eingeschärft. »Achte darauf, daß der Meister es nicht erfährt - und auch Lyschko nicht, der ihm alles zuträgt.«
»Ist es verboten, daß du mir hilfst?« hatte Lobosch gefragt. »Was geschieht, wenn dir jemand draufkommt?«
»Das«, hatte Krabat geantwortet, »braucht dich nicht zu bekümmern. Hauptsache: du verrätst dich nicht!«
Lobosch, so klein er war, hatte augenblicklich begriffen, worauf es ankam. Er spielte mit viel Geschick seine Rolle, von der nur sie beide wußten, daß er den anderen etwas vortäuschte, was in Wirklichkeit halb so schlimm war. Er ächzte und stöhnte bei jedem Handgriff zum Gotterbarmen. Kein Abend, an dem er sich nicht vom Tisch weg auf seine Pritsche verzog, kaum fähig, die Bodentreppe hinaufzukriechen; kein Morgen, an dem er nicht schon beim Frühstück so müde aussah, als werde er gleich vom Stuhl fallen.
Er war aber nicht nur ein heller Kopf und ein ausgezeichneter Schauspieler: das erwies sich zwei Wochen später, als Krabat dazukam, wie Lobosch sich hinter der Mühle damit herumplagte, einen Eishaufen wegzupickeln.
»Ich möchte dich etwas fragen«, begann der Kleine. »Wirst du mir antworten?«
»Wenn ich kann ...«, meinte Krabat.
»Du hilfst mir nun, seit ich hier auf der Mühle bin«, sagte Lobosch,
»und hilfst mir, obgleich es der Meister nicht wissen darf, weil du sonst Ärger bekommen würdest - das stimmt doch, das kann man sich an zwei Fingern ausrechnen ...«
»Ist es das«, unterbrach ihn Krabat, »wonach du mich fragen wolltest?«
»Nein«, sagte Lobosch, »die Frage kommt erst noch.«
»Und sie lautet?«
»Sage mir, wie ich dir deine Hilfe danken kann.«
»Danken?« erwiderte Krabat und wollte abwinken - da besann er sich anders. »Ich werde dir«, sagte er, »eines Tages von meinen Freunden erzählen, von Tonda und Michal, die beide tot sind. Wenn du mir zuhörst dabei, ist es Dank genug.«
Gegen Ende des Monats Januar setzte Tauwetter ein, so heftig wie unerwartet. Gestern noch hatte es Stein und Bein gefroren im Koselbruch; heute blies seit den frühen Morgenstunden der Westwind ums Haus, viel zu warm für die Jahreszeit. Und die Sonne schien, und der Schnee schmolz in wenigen Tagen zusammen, daß es zum Staunen war. Hie und da nur, in einem Graben, in einer Mulde, in einer Wagenspur hielten sich ein paar schäbige graue Reste - aber was zählten sie gegenüber dem Braun der Wiesen, dem Schwarz der Maulwurfshügel, dem ersten Schimmer von Grün unterm welken Gras.
»Ein Wetter«, meinten die Mühlknappen - »wie zu Ostern!«
Der warme Westwind setzte den Burschen mit jedem Tag stärker zu.
Er machte sie müde und fahrig, oder wie Andrusch sich ausdrückte: »wie besoffen«.
Sie schliefen unruhig während dieser Zeit, träumten wirres Zeug durcheinander und redeten laut im Schlaf. Zwischendurch lagen sie lange wach und wälzten sich auf den Strohsäcken hin und her. Nur Merten bewegte sich nie, der lag reglos auf seiner Pritsche und sprach selbst im Schlaf nicht.
Krabat dachte in diesen Tagen viel an die Kantorka. Er hatte sich vorgenommen, zu Ostern mit ihr zu sprechen. Bis dahin, das wußte er, hatte es gute Weile. Dennoch beschäftigte der Gedanke ihn, wo er ging und stand.
Er war in den letzten Nächten zwei-, dreimal im Traum unterwegs gewesen zur Kantorka, hatte sie aber nie erreicht, weil ihm jedesmal etwas dazwischengekommen war - etwas, woran er sich hinterher nicht erinnern konnte.
Was war es gewesen? Was hatte ihn aufgehalten?
Der Anfang des Traumes war ihm in aller Deutlichkeit gegenwärtig. Da war er in einem günstigen Augenblick aus der Mühle weggelaufen, von keinem gesehen, von niemand bemerkt. Er schlug nicht den üblichen Weg nach Schwarzkollm ein: er wählte den Pfad durch das Moor, den Tonda ihn einst geführt hatte, als sie vom Torfstich nach Hause gegangen waren. Bis hierher war alles klar, und dann wußte er nicht mehr weiter. Das quälte ihn.
Während er eines Nachts auf der Pritsche lag, wachgeworden vom Heulen des Windes, grübelte er aufs neue darüber nach. Hartnäckig wiederholte er in Gedanken den Anfang des Traumes ein drittes, ein viertes, ein sechstes Maclass="underline" bis er darüber einschlief - und diesmal gelang es ihm endlich, den Traum zu Ende zu träumen.
Krabat ist aus der Mühle weggelaufen. In einem günstigen Augenblick hat er sich aus dem Haus gestohlen, von keinem gesehen, von niemand bemerkt. Er will nach Schwarzkollm, zur Kantorka, doch er schlägt nicht den üblichen Weg ein: er wählt jenen Pfad durch das Moor, den Tonda ihn einst geführt hat, wie sie vom Torfstich nach Hause gegangen sind.
Draußen im Moor wird er plötzlich unsicher. Nebel ist aufgekommen, der nimmt ihm die Sicht. Zögernd tastet sich Krabat weiter, auf schwankendem Boden.
Hat er den Pfad verloren?
Er merkt, wie das Moor sich festsaugt an seinen Sohlen, wie er mit jedem Schritt tiefer einsinkt darin: bis zum Rist ... zu den Knöcheln dann ... bald bis zur halben Wade. Er muß in ein Moorloch geraten sein. Je mehr er sich anstrengt, zurückzufinden auf festes Land, desto rascher versinkt er.
Kalt wie der Tod ist das Moor, eine zähe, klebrige schwarze Masse. Er spürt, wie es ihm die Knie umschließt, dann die Oberschenkel, die Hüften: bald wird es um ihn geschehen sein.
Da beginnt er, solange die Brust noch frei ist, um Hilfe zu schreien. Er weiß, daß es wenig Sinn hat. Wer soll ihn hier draußen hören? Trotzdem schreit er und schreit, was die Lunge hergibt.
»Hilfe!« schreit er. »Rettet mich, ich versinke, rettet mich!«
Der Nebel ist dichter geworden. So kommt es, daß Krabat die beiden Gestalten erst wahrnimmt, wie sie schon bis auf wenige Schritte heran sind. Er glaubt zu erkennen, daß Tonda und Michal da auf ihn zukommen.