Krabat hob Brot und Wurstzipfel bis zum Ende des Tages auf. Bald nach dem Abendessen, während es sich die Müllerburschen in der Gesindestube bequem machten, Petar sein Schnitzzeug hervorholte und die anderen anfingen, sich mit Geschichtenerzählen die Zeit zu vertreiben, entfernte der Junge sich aus der Runde und stieg auf den Dachboden, wo er sich gähnend auf seinen Strohsack warf. Er verzehrte das Brot und die Wurst; und während er auf dem Rücken lag und es sich schmecken ließ, mußte er unwillkürlich an Juro denken - und an das Gespräch, das sie in der Küche geführt hatten.
»Weglaufen?« ging es ihm durch den Kopf. »Wovor denn? Die Arbeit, gewiß, ist kein Honiglecken - und hätte ich Tondas Hilfe nicht, stünde es schlimm um mich. Aber das Essen ist gut und reichlich, ich habe ein Dach überm Kopf - und ich weiß, wenn ich morgens aufstehe, daß mein Schlafplatz mir für den Abend sicher ist: warm und trocken und leidlich weich, ohne Wanzen und Flöhe. Ist das nicht mehr, als ein Betteljunge sich durfte träumen lassen?«
Wege im Traum
Schon einmal war Krabat weggelaufen: bald nach dem Tod seiner Eltern, die letztes Jahr an den Pocken gestorben waren; da hatte ihn der Herr Pastor zu sich genommen, um, wie er sagte, ihn nicht verludern zu lassen - und nichts gegen den Herrn Pastor und seine Frau, die sich immer schon einen Jungen ins Haus gewünscht hatte. Aber für jemand wie Krabat, der seine Jahre in einer lausigen kleinen Hütte verbracht hat, im Hirtenhäusel von Eutrich - für so jemand war es schwer, sich bei Pfarrers einzuleben: von morgens bis abends brav zu sein, nicht zu schimpfen und nicht zu raufen, in weißen Hemden umherzugehen, den Hals gewaschen, das Haar gekämmt, niemals barfuß, mit reinen Händen und saubergekratzten Fingernägeln - und obendrein auch noch deutsch zu sprechen die ganze Zeit, hochdeutsch!
Krabat hatte versucht, was in seinen Kräften stand, eine Woche lang, eine zweite; dann war er den Pfarrersleuten davongelaufen und unter die Betteljungen gegangen. Nicht ausgeschlossen, daß er es auch auf der Mühle im Koselbruch nicht auf ewig aushielt.
»Aber«, beschloß er, sich nach dem letzten Bissen die Lippen leckend, halb schon im Einschlafen, »wenn ich hier ausreiße, muß es Sommer sein ... Eh' die Wiesen nicht blühen, das Korn auf den Feldern nicht stäubt und die Fische im Mühlenweiher nicht schnalzen, bringt mich hier keiner weg...«
Es ist Sommer, die Wiesen blühen, das Korn stäubt, im Mühlenweiher schnalzen die Fische. Krabat hat Streit mit dem Meister gehabt: er hat sich, statt Säcke zu schleppen, im Schatten der Mühle ins Gras gelegt und ist eingeschlafen; der Meister hat ihn dabei ertappt und ihm eins mit dem Knotenstock übergezogen.
»Dir werd ich's austreiben, Bürschlein - am hellichten Tag zu faulenzen!«
Braucht Krabat sich das gefallen zu lassen?
Im Winter vielleicht, als der Eiswind über die Heide fauchte, da hätte er kuschen müssen. Der Meister hat wohl vergessen, daß Sommer ist!
Krabats Entschluß steht fest. Keinen Tag länger bleibt er in dieser Mühle! Er stiehlt sich ins Haus, holt vom Dachboden Rock und Mütze, dann schleicht er davon. Niemand sieht ihn. Der Meister hat sich in seine Stube zurückgezogen, die Fenster sind wegen der Hitze mit Tüchern verhängt; die Mühlknappen arbeiten auf dem Speicher und an den Mahlgängen; selbst Lyschko hat keine Zeit, sich um Krabat zu scheren. Und dennoch fühlt sich der Junge heimlich beobachtet.
Wie er sich umblickt, bemerkt er, daß auf dem Dach des Holzschuppens jemand sitzt und ihn anstarrt: ein struppiger schwarzer Kater, fremd hier - und einäugig.
Krabat bückt sich, er wirft einen Stein nach ihm, scheucht ihn fort.
Dann eilt er im Schutz der Weidenbüsche zum Mühlenweiher. Zufällig sieht er, daß nahe dem Ufer ein feister Karpfen im Wasser steht: einäugig glotzt er zu Krabat empor.
Dem Jungen wird unbehaglich, er hebt einen Stein auf, er schleudert ihn nach dem Fisch. Der Karpfen taucht weg, in die grüne Tiefe hinab.
Nun folgt Krabat dem Schwarzen Wasser bis zu der Stelle im Koselbruch, die sie den Wüsten Plan nennen; dort verweilt er für ein paar Augenblicke an Tondas Grab. Er erinnert sich dunkel, daß sie den Freund eines Wintertages hier draußen begraben mußten.
Er denkt an den Toten - und plötzlich, es trifft ihn so unerwartet, daß ihm das Herz stockt: ein heiseres Krächzen. Auf einer verkrüppelten Föhre am Rand des Planes hockt reglos ein fetter Rabe. Sein Blick ist auf Krabat gerichtet - auch ihm fehlt, der Junge sieht es mit Schaudern, das linke Auge.
Krabat weiß nun, woran er ist. Er besinnt sich nicht lange, er rennt davon: rennt, was die Sohlen halten, am Schwarzen Wasser entlang, bachaufwärts.
Wie er das erstemal anhalten muß, weil er außer Atem ist, schlängelt sich eine Natter durchs Heidekraut, richtet sich zischelnd auf, blickt ihn an - sie ist einäugig! Einäugig ist auch der Fuchs, der ihm aus dem Dickicht entgegenspäht.
Krabat rennt und verschnauft eine Weile, er rennt und verschnauft. Gegen Abend erreicht er das obere Ende des Koselbruchs. Wenn er ins Freie hinaustritt, so hofft er, wird er dem Zugriff des Meisters entronnen sein. Flüchtig taucht er die Hände ins Wasser, netzt Stirn und Schläfen. Dann steckt er das Hemd in die Hosen, es ist ihm beim Laufen herausgerutscht, zieht den Gürtel stramm, bringt die letzten paar Schritte hinter sich - und erschrickt:
Statt, wie erhofft, auf die freie Heide, tritt er auf eine Lichtung hinaus; und mitten auf dieser Lichtung, friedlich im Abendschein, liegt die Mühle.
Der Meister erwartet ihn vor der Haustür. »Na, Krabat«, begrüßt er ihn spöttisch. »Ich wollte schon nach dir suchen lassen.«
Krabat ist wütend, er kann sich das Mißgeschick nicht erklären. Anderntags läuft er wieder weg, diesmal in aller Frühe, vor Tau und Tag - in entgegengesetzter Richtung, zum Wald hinaus, über Felder und Wiesen, durch Dörfer und Weiler. Er springt über Wasserläufe, er watet durch einen Sumpf, ohne Rast, ohne Aufenthalt. Raben, Nattern und Füchse beachtet er nicht; keinen Fisch blickt er an, keine Katze, kein Huhn, keinen Enterich. »Mögen sie einäugig sein oder zweiäugig - oder von mir aus blind«, denkt er. »Diesmal lasse ich mich nicht irremachen!«
Trotzdem steht er am Ende des langen Tages abermals vor der Mühle im Koselbruch. Heut sind es die Mühlknappen, die ihn empfangen: Lyschko mit hämischen Reden, die anderen schweigend und eher mitleidig. Krabat ist der Verzweiflung nahe. Er weiß, daß er aufgeben sollte; aber er will es nicht wahrhaben, er versucht es ein drittes Mal, diese Nacht noch.
Das Weglaufen aus der Mühle fällt ihm nicht schwer - und dann immer dem Nordstern nach! Mag er auch straucheln, mag er sich in der Finsternis Beulen und Schrammen holen: Hauptsache, daß ihn niemand sieht, daß ihn keiner behexen kann...
Unweit von ihm schreit ein Käuzchen, dann streicht eine Eule vorbei; wenig später entdeckt er im Sternenlicht einen alten Uhu: zum Greifen nahe sitzt er auf einem Ast und beobachtet ihn - mit dem rechten Auge, das linke fehlt ihm.
Krabat läuft weiter, er fällt über Wurzeln, er stolpert in einen Wassergraben. Es wundert ihn kaum noch, daß er bei Tagesanbruch zum drittenmal vor der Mühle steht.
Im Haus ist zu dieser Stunde noch alles still, nur Juro rumort in der Küche herum, er hantiert am Herd. Krabat hört ihn und geht hinein.
»Du hast recht gehabt, Juro - man kann hier nicht weglaufen.«
Juro gibt ihm zu trinken, dann meint er: »Du solltest dich erst mal waschen, Krabat.« Er hilft ihm aus seinem nassen, mit Blut und Erde beschmutzten Hemd, er füllt ihm ein Schaff mit Wasser und sagt dann - ernsthaft und ohne sein übliches blödes Grinsen sagt er es: »Was du allein nicht geschafft hast, Krabat - das wäre vielleicht zu schaffen, wenn zwei sich zusammentun. Wollen wir beiden es miteinander versuchen, das nächste Mal?«