»Was soll das heißen, dass es die Physik nicht tut?«, fragte Jesse. »Glaub mir, so etwas will ich im Augenblick eigentlich nicht hören.«
Harry lächelte. »Entschuldigung. Ich möchte es etwas genauer ausdrücken. Natürlich hat die Physik etwas damit zu tun, dass die Bohnenstange funktioniert. Aber es handelt sich nicht um die Physik im landläufigen Sinne. Hier spielt sich eine Menge ab, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint.«
»Irgendwie klingt das wie der Anfang einer Physikstunde«, sagte ich.
»Ich habe jahrelang Jugendliche unterrichtet«, sagte Harry und zog einen kleinen Notizblock und einen Stift hervor. »Aber keine Sorge, es ist völlig schmerzlos. Schaut mal her.« Harry zeichnete einen Kreis auf die untere Hälfte des Blatts. »Das ist die Erde. Und das …«◦– darüber zeichnete er einen kleinen Kreis◦– »ist die Kolonialstation. Sie befindet sich im geosynchronen Orbit, was bedeutet, dass sie auf die Erdrotation bezogen ihre Position nicht verändert. Sie hängt immer genau über Nairobi. Könnt ihr mir so weit folgen?«
Wir nickten.
»Gut. Hier geht es darum, dass man die Kolonialstation mit der Erde verbindet, und zwar durch die ›Bohnenstange‹, ein Bündel aus Kabeln, wie ihr sie durch die Fenster sehen könnt, und mehrere Aufzugskabinen wie diese hier, die daran raufund runterfahren.« Harry zog zwischen den beiden Kreisen eine Linie, die das Kabel darstellte, und fügte ein kleines Rechteck hinzu, das unsere Kabine symbolisierte. »Der Trick an der Sache ist, dass die Aufzüge an den Kabeln nicht auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt werden müssen, um in den Erdorbit zu gelangen, anders als bei der Nutzlast einer Rakete. Das ist gut für uns, weil wir während der Fahrt nicht das Gefühl haben, ein Elefant hätte uns einen Fuß auf den Brustkorb gestellt. Ganz einfache Sache.
Das Seltsame daran ist nur, dass diese Bohnenstange nicht den grundlegenden physikalischen Voraussetzungen einer klassischen Bohnenstange zwischen Erde und Weltraum entspricht. Zum einen …«◦– Harry zeichnete eine weitere Linie ein, die vom kleinen Kreis bis zum Rand des Blattes führte◦– »dürfte sich die Kolonialstation nicht am Ende der Bohnenstange befinden. Aus Gründen, die etwas mit dem Gleichgewicht der Massen und orbitaler Dynamik zu tun haben, müsste es ein zusätzliches Kabel geben, das mehrere zehntausend Kilometer über die Station hinausreicht. Ohne dieses Gegengewicht, müsste eine Bohnenstange sehr instabil und gefährlich sein.«
»Und du willst darauf hinaus, dass diese es nicht ist«, sagte ich.
»Sie ist nicht nur nicht instabil, sondern wahrscheinlich die sicherste Methode, die jemals erfunden wurde, in den Weltraum zu gelangen,«, sagte Harry. »Die Bohnenstange ist seit über einem Jahrhundert ständig in Betrieb. Für die Kolonisten gibt es keinen anderen Startpunkt. Es hat nie einen Unfall aufgrund von Instabilität oder Materialverschleiß gegeben, was immer mit Instabilitäten zusammenhängen würde. Vor vierzig Jahren gab es den berüchtigten Bombenanschlag, aber das war Sabotage, die nichts mit der physikalischen Struktur der Bohnenstange zu tun hatte. Sie selbst ist bewundernswert stabil, und zwar seit ihrer Errichtung. Doch nach den Grundgesetzen der Physik dürfte sie es eigentlich nicht sein.«
»Was ist also das Geheimnis der Bohnenstange?«, wollte Jesse wissen.
Wieder lächelte Harry. »Das ist die große Frage.«
»Heißt das, du weißt es nicht?«, sagte Jesse.
»Ich weiß es nicht«, gab Harry zu. »Aber das sollte kein Grund zur Besorgnis sein, da ich lediglich Physiklehrer an einer Highschool war. Doch soweit mir bekannt ist, gibt es praktisch niemanden, der eine Vorstellung hat, wie das Ding funktioniert. Hier auf der Erde, meine ich. In der Kolonialen Union sieht es offenbar anders aus.«
»Wie kann das sein?«, rief ich. »Sie steht doch schon seit über hundert Jahren hier. Und niemand hat sich dafür interessiert, wie sie tatsächlich funktioniert?«
»Das habe ich nicht gesagt«, gab Harry zurück. »Natürlich hat man versucht, es herauszufinden. Und es war in all diesen Jahren keineswegs ein Geheimnis. Als die Bohnenstange errichtet wurde, gab es viele Anfragen von Regierungen und der Presse, die alles darüber wissen wollten. Die KU hat darauf im Wesentlichen mit ›Findet es selber raus‹ geantwortet. Damit war die Sache für sie erledigt. Seitdem haben sich Physiker mit dem Ding beschäftigt. Es wird als ›Das Bohnenstangenproblem‹ bezeichnet.«
»Kein sehr origineller Titel«, sagte ich.
»Physiker sparen sich ihre Phantasie für andere Dinge auf«, sagte Harry glucksend. »Jedenfalls wurde es nicht gelöst, hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste ist der Umstand, dass die Sache sehr kompliziert ist. Ich habe schon auf die Massenverteilung hingewiesen, aber es gibt noch andere Schwierigkeiten mit der Kabeldicke, mit Schwingungen, die durch Stürme und andere atmosphärische Phänomene verursacht werden, und es spielt sogar die Frage eine Rolle, ob die Kabel spitz zulaufen sollen. In der realen Welt ist jede dieser Fragen für sich genommen schon schwer genug zu lösen. Sie alle auf einmal zu beantworten, ist so gut wie unmöglich.«
»Was ist der zweite Grund?«, fragte Jesse.
»Der zweite Grund ist der, dass es gar keinen Grund dafür gibt. Selbst wenn wir genau wüssten, wie man so ein Ding baut, könnten wir es uns gar nicht leisten.« Harry lehnte sich zurück. »Kurz bevor ich als Lehrer anfing, habe ich für die Hoch- und Tiefbauabteilung von General Electric gearbeitet. Damals haben wir an der subatlantischen Eisenbahnstrecke gearbeitet, und eine meiner Aufgaben bestand darin, alte Pläne und Bauvorschläge zu prüfen, um zu sehen, ob sich die Techniken irgendwie auf das Subatlantik-Projekt anwenden ließen. Es war so etwas wie der verzweifelte Versuch, irgendwie die Kosten zu drücken.«
»Ist General Electric nicht an diesem Projekt pleite gegangen?«, fragte ich.
»Jetzt weißt du, warum sie versucht haben, die Kosten zu drücken. Und warum ich Lehrer geworden bin. Danach konnte sich General Electric meine Dienste nicht mehr leisten. Oder die von anderen Leuten. Jedenfalls bin ich diese alten Pläne durchgegangen, von denen einige als geheim klassifiziert waren, und in einem davon ging es um eine Bohnenstange. General Electric war von der US-Regierung beauftragt worden, ein unabhängiges Gutachten über die Machbarkeit einer Bohnenstange in der westlichen Hemisphäre zu erstellen. Man wollte im Amazonasgebiet ein Loch mit dem Durchmesser von Delaware roden und das Ding genau auf den Äquator stellen.
General Electric gelangte zur Auffassung, dass man den Plan möglichst schnell vergessen sollte. Die Auswertung besagte, dass selbst unter der Annahme einiger technischer Weiterentwicklungen◦– zu denen es größtenteils bis heute nicht gekommen ist und die nicht annähernd dem Standard entsprechen, der bei dieser Bohnenstange verwirklicht wurde◦– das Budget für das Projekt ungefähr das Dreifache des jährlichen Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten verschlingen würde. Unter der Voraussetzung, dass man den Kostenrahmen einhalten würde, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre. Das Ganze ist nun zwanzig Jahre her, und der Bericht, den ich gelesen habe, war zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre alt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kosten seitdem erheblich niedriger geworden sind. Also gibt es keine neuen Bohnenstangen, zumal es preiswertere Methoden gibt, Menschen und Material in den Orbit zu befördern. Wesentlich preiswertere.«
Harry beugte sich wieder vor. »Was uns zu zwei nahe liegenden Fragen führt. Wie hat es die Koloniale Union geschafft, dieses technische Monstrum zu verwirklichen, und warum hat man überhaupt diese Mühe auf sich genommen?«
»Offensichtlich ist die Koloniale Union technisch fortgeschrittener als wir hier auf der Erde«, sagte Jesse.