»Offensichtlich«, sagte Harry. »Aber warum? Die Kolonisten sind auch nur Menschen. Obendrein rekrutieren sie sich in erster Linie aus verarmten Ländern, die ein Bevölkerungsproblem haben, was bedeutet, dass die Kolonisten nicht besonders gut ausgebildet sein können. Wenn sie ihre neue Heimat erreicht haben, kann man davon ausgehen, dass sie mehr Zeit darauf verwenden, am Leben zu bleiben, als kreative Techniken zum Bau von Bohnenstangen zu entwickeln. Und die Technik, die überhaupt die interstellare Kolonisierung ermöglicht hat, ist der Skip-Antrieb, der hier auf der Erde erfunden wurde. Und der wurde seit mehr als hundert Jahren kaum verbessert. Also gibt es eigentlich keinen Grund, warum die Kolonisten technisch höher entwickelt sein sollten als wir.«
Plötzlich klickte etwas in meinem Kopf. »Es sei denn, sie schummeln.«
Harry grinste. »Genau das habe ich mir auch gedacht.«
Jesse sah mich und dann Harry an. »Ich kann euch beiden nicht mehr folgen.«
»Sie schummeln«, sagte ich. »Hier auf der Erde schmoren wir im eigenen Saft. Wir können nur von uns selbst lernen. Wir forschen und verfeinern ständig unsere Technik, aber nur sehr langsam, weil wir die ganze Arbeit selber machen müssen. Aber da oben …«
»Da oben treffen die Menschen auf andere intelligente Spezies«, erklärte Harry. »Einige von ihnen müssen technisch weiter fortgeschritten sein als wir. Entweder erwerben wir die Kenntnisse durch ehrenhaften Handel, oder wir studieren sie, bis wir herausfinden, wie es funktioniert. Es ist viel leichter, wenn man schon etwas hat, mit dem man arbeiten kann, als es aus dem Nichts zu entwickeln.«
»Das ist die Schummelei daran«, sagte ich. »Die KU hat aus dem Schulheft eines Klassennachbarn abgeschrieben.«
»Und warum lässt die Koloniale Union uns dann nicht an diesen Erkenntnissen teilhaben?«, fragte Jesse. »Welchen Sinn hat es, alles für sich zu behalten?«
»Vielleicht halten sie sich an den Grundsatz: Was wir nicht wissen, tut uns auch nicht weh«, sagte ich.
»Oder es steckt etwas ganz anderes dahinter«, sagte Harry und zeigte auf das Fenster, wo die Kabel der Bohnenstange vorbeiglitten. »Diese Bohnenstange wurde nämlich nicht gebaut, weil sie die einfachste Methode ist, um Menschen zur Kolonialstation zu befördern, sondern weil sie eine der schwierigsten, der teuersten, technisch komplexesten und politisch bedrohlichsten Methoden ist, es zu tun. Ihre bloße Anwesenheit soll uns ständig daran erinnern, dass die KU uns buchstäblich um Lichtjahre voraus ist.«
»Ich habe sie nie als bedrohlich empfunden«, sagte Jesse. »Ich habe mir überhaupt kaum Gedanken darüber gemacht.«
»Die Botschaft ist auch nicht an dich gerichtet«, sagte Harry. »Wenn du jedoch Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wärst, würdest du anders darüber denken. Schließlich hält uns die KU hier auf der Erde fest. Sie erlaubt uns Raumfahrt nur zum Zweck der Kolonisierung oder Rekrutierung. Die Politiker stehen ständig unter Druck, sich der KU zu beugen und ihren Leuten den Zugang zu den Sternen zu ermöglichen. Aber die Bohnenstange ist wie ein großes Mahnmal. Es sagt: ›Solange ihr das hier nicht nachbauen könnt, dürft ihr nicht einmal daran denken, uns querzukommen‹. Und die Bohnenstange ist die einzige Technik, die die KU uns zu zeigen bereit ist. Stellt euch nur einmal vor, was sie uns alles nicht zeigen will. Ich kann euch garantieren, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ständig daran denkt. Das ist der Grund, warum er und alle anderen Regierungschefs dieses Planeten vor der KU kuschen.«
»All das erweckt in mir nicht gerade freundschaftliche Gefühle für die Koloniale Union«, sagte Jesse.
»Es muss gar nicht gegen uns gerichtet sein«, sagte Harry. »Vielleicht will die KU die Erde nur beschützen. Das Universum ist verdammt groß. Vielleicht wohnen wir nicht gerade im angenehmsten Viertel.«
»Warst du schon immer so paranoid, Harry?«, fragte ich. »Oder hat es sich erst entwickelt, als du älter wurdest?«
»Was glaubst du wohl, wie ich es geschafft habe, fünfundsiebzig zu werden?«, erwiderte Harry grinsend. »Jedenfalls habe ich kein Problem damit, dass die KU technisch höher entwickelt ist. Davon werde ich in Kürze profitieren.« Er hob den Arm. »Schaut euch das hier an. Die Haut ist schlaff und runzlig, und die Muskeln machen nicht mehr richtig mit. Die KU wird irgendwas mit diesem Arm◦– und dem Rest von mir◦– anstellen und alles wieder kampftauglich machen. Und wisst ihr, wie sie das anstellt?«
»Nein«, sagte ich.
Jesse schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es auch nicht.« Harry ließ den Arm einfach auf den Tisch zurückfallen. »Ich habe keine Ahnung, wie sie das machen wollen. Obendrein kann ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie sie es machen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir von der KU auf einem kindlichen Entwicklungsstand gehalten werden. Falls man es mir jetzt erklären würde, wäre das genauso, als wollte man jemandem, der nie ein komplexeres Transportmittel als eine Pferdekutsche gesehen hat, das Funktionsprinzip der Bohnenstange erklären. Dennoch muss es funktionieren. Wie sonst hätte man das Universum mit einer Legion von Greisen erobern können? Nichts für ungut«, fügte er hastig hinzu.
»Kein Problem«, sagte Jesse lächelnd.
»Verehrtes Publikum«, sagte Harry und sah uns beide an, »wir glauben vielleicht, dass wir eine gewisse Vorstellung haben, was uns erwartet, aber wir haben nicht den leisesten Schimmer. Das können wir aus der bloßen Existenz dieser Bohnenstange schließen. Sie ist größer und fremdartiger als alles, was wir kennen, und sie stellt nur die erste Etappe unserer Reise dar. Was als Nächstes kommt, wird noch größer und fremdartiger sein. Macht euch darauf gefasst, so gut ihr könnt.«
»Wie dramatisch!«, sagte Jesse ironisch. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mich nach einer solchen Offenbarung auf irgendetwas gefasst machen soll.«
»Aber ich«, sagte ich und schob mich seitlich aus der Sitznische heraus. »Ich werde pinkeln gehen. Wenn das Universum größer und fremdartiger ist, als ich mir vorstellen kann, ist es besser, ihm mit einer leeren Blase zu begegnen.«
»Das ist die wahre Pfadfindermentalität«, sagte Harry.
»Nur dass ein Pfadfinder nicht so oft pinkeln muss wie ich«, erwiderte ich.
»Nach sechzig Jahren wird es jedem Pfadfinder so gehen«, sagte Harry.
3
»Ich weiß nicht, wie es euch geht«, sagte Jesse zu Harry und mir, »aber ich muss zugeben, dass ich mir das Leben in der Armee etwas anders vorgestellt habe.«
»Ist doch gar nicht so schlecht«, sagte ich. »Hier, nimm noch einen Donut.«
»Ich brauche nicht noch mehr Donuts«, sagte sie und nahm sich trotzdem einen. »Ich brauche etwas Schlaf.«
Ich wusste, was sie meinte. Mehr als achtzehn Stunden waren vergangen, seit ich von zu Hause aufgebrochen war, und fast die ganze Zeit war ich auf Reisen gewesen. Ich hätte nichts gegen ein Nickerchen einzuwenden gehabt. Stattdessen saß ich in der riesigen Kantine eines interstellaren Kreuzers, wo man Kaffee und Donuts für die insgesamt etwa eintausend Rekruten aufgetischt hatte. Während wir darauf warteten, dass jemand kam und uns sagte, was wir als Nächstes tun sollten. Zumindest das entsprach ziemlich genau meiner Vorstellung vom Leben als Soldat.
Gleich nach der Ankunft begannen die Hetzerei◦– und die Warterei. Sobald wir die Kabine der Bohnenstange verlassen hatten, wurden wir von zwei Apparatschiks der Kolonialen Union begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir die letzten Rekruten waren, die man für ein Schiff erwartete, das bald starten würde. Also sollten wir ihnen bitte so schnell wie möglich folgen, damit der Zeitplan eingehalten werden konnte. Einer der beiden übernahm die Führung, und seine Kollegin bildete die Nachhut. So konnten sie auf sehr effektive und etwas demütigende Weise mehrere Dutzend ältere Mitbürger quer durch die Station zu unserem Schiff scheuchen, der KVAS Henry Hudson.