Jesse und Harry waren offensichtlich von der Hetzerei genauso enttäuscht wie ich. Die Kolonialstation war gewaltig, mit einem Durchmesser von über einer Meile (1800 Meter, um genau zu sein, und ich hatte den Verdacht, dass ich mich nach fünfundsiebzig Jahren wohl doch an das metrische System würde gewöhnen müssen). Sie diente als einziger Umschlaghafen für Rekruten und Kolonisten gleichermaßen. Durchgetrieben zu werden, ohne anhalten zu können, um sich alles anzuschauen, war genauso, als würde ein Fünfjähriger von gestressten Eltern zur Weihnachtszeit durch einen Spielzeugladen gehetzt werden. Ich hätte mich am liebsten zu Boden geworfen und einen Schreianfall bekommen, um meinen Willen durchzusetzen. Bedauerlicherweise war ich schon zu alt (beziehungsweise noch nicht alt genug), als dass diese Strategie Erfolg versprochen hätte.
Trotzdem bekam ich auf dem Gewaltmarsch einen verlockenden Appetithappen zu sehen. Während unsere Apparatschiks uns zur Eile antrieben, kamen wir an einer riesigen Halle vorbei, die mit Pakistanis oder indischen Moslems vollgestopft war. Die meisten warteten geduldig, bis sie ein Shuttle besteigen konnten, das sie zu einem gewaltigen Kolonistenschiff brachte, das durch das Fenster in einiger Entfernung zu sehen war. Andere stritten sich mit Vertretern der KU über dieses oder jenes in akzentgefärbtem Englisch. Manche trösteten ihre Kinder, die sich schrecklich langweilten, oder kramten in ihrem Gepäck nach etwas Essbarem. In einer Ecke kniete eine Gruppe Männer auf einem Teppich, um zu beten. Ich fragte mich, wie sie in dreiundzwanzigtausend Meilen Höhe bestimmt hatten, wo Mekka lag, dann wurden wir weitergetrieben, sodass ich sie aus den Augen verlor.
Jesse zupfte an meinem Ärmel und zeigte nach rechts. In einer kleinen Messe erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf etwas Blaues, das mit einem Tentakel einen Martini hielt. Ich machte Harry darauf aufmerksam. Er war so fasziniert, dass er ein Stück zurücklief, um sich die Sache genauer anzusehen, womit er den Apparatschik am Ende der Gruppe zur Verzweiflung trieb. Die Frau drängte Harry mit mürrischer Miene zurück in die Herde. Harry jedoch grinste wie ein Idiot. »Ein Gehaar«, sagte er. »Er war dabei, eine Büffelkeule zu verspeisen, als ich ihn gesehen habe. Widerlich.« Dann kicherte er. Die Gehaar gehörten zu den ersten intelligenten Aliens, denen die Menschen begegnet waren. Das war in der Zeit gewesen, bevor die Koloniale Union ihr Monopol auf die Raumfahrt etabliert hatte. Im Grunde waren es nette Leute, nur dass sie aßen, indem sie ihrer Nahrung aus mehreren dünnen Kopftentakeln Säure injizierten und die Pampe schließlich unter starker Geräuschentwicklung durch eine Körperöffnung aufschlürften. Eine ziemliche Sauerei.
Harry war trotzdem glücklich. Er hatte zum ersten Mal einen leibhaftigen Außerirdischen gesehen.
Die Hetzerei näherte sich dem Ende, als eine Halle in Sicht kam, über der die Worte »Henry Hudson/KVA-Rekruten« leuchteten. Unsere Gruppe nahm dankbar auf den Sitzen Platz, während die Apparatschiks mit ein paar anderen Mitarbeitern sprachen, die an der Einstiegsschleuse für das Shuttle warteten. Harry, der eine unverkennbare Neigung zur Neugier an den Tag legte, spazierte zu einem Fenster hinüber, um einen Blick auf unser Schiff zu werfen. Jesse und ich erhoben uns erschöpft, um ihm zu folgen. Ein kleiner Informationsmonitor vor dem Fenster half uns dabei, es im Gewimmel auszumachen.
Die Henry Hudson hatte natürlich nicht an der Schleuse angedockt. Schließlich war es nicht einfach, die Bewegung eines interstellaren Raumschiffs von hunderttausend metrischen Tonnen an eine rotierende Raumstation anzupassen. Genauso wie die Kolonistentransporter hielt es einen angemessenen Sicherheitsabstand, während Vorräte, Passagiere und die Besatzung mit leichter zu manövrierenden Shuttles hin und her geflogen wurden. Die Hudson stand ein paar Meilen über der Station und war keine schwerfällige, unästhetische und funktionale Konstruktion wie die Speichenräder der Kolonistenschiffe, sondern schlanker, flacher und vor allem nicht zylindrisch oder radförmig aufgebaut. Als ich diesen Punkt Harry gegenüber erwähnte, nickte er. »Ständig aktive künstliche Schwerkraft«, sagte er. »Und zwar über ein größeres Volumen stabil. Sehr beeindruckend.«
»Ich hatte den Eindruck, dass auch die Bohnenstangenkabine unter künstlicher Schwerkraft stand«, sagte Jesse.
»Richtig«, bestätigte Harry. »Die Leistung der Gravitationsgeneratoren der Kabine wurde verstärkt, je höher wir aufstiegen.«
»Und was ist der große Unterschied zu einem Raumschiff, in dem künstliche Schwerkraft eingesetzt wird?«, fragte Jesse.
»Nur die Tatsache, dass es ziemlich schwierig ist«, sagte Harry. »Man braucht gewaltige Energiemengen, um ein Gravitationsfeld zu erzeugen, und die benötigte Energie erhöht sich exponential mit dem Radius des Feldes. Wahrscheinlich wird getrickst, indem man mehrere kleinere Felder erzeugt. Aber selbst diese Methode hat es in sich. Die Erzeugung des Schwerkraftfeldes in unserer Kabine hat wahrscheinlich mehr Strom gefressen, als deine Heimatstadt monatlich an Energie verbraucht.«
»Das kann nicht allzu viel sein«, sagte Jesse. »Ich komme aus San Antonio.«
»Na gut. Dann eben seine Heimatstadt.« Harry zeigte mit dem Daumen auf mich. »Auf jeden Fall ist es eine unglaubliche Energieverschwendung, und in den meisten Fällen, wo künstliche Schwerkraft benötigt wird, ist es einfacher und erheblich preiswerter, ein Rad zu bauen und es rotieren zu lassen, damit Menschen und Gegenstände durch die Fliehkraft an die Innenseite gepresst werden. Sobald man das Ding in Rotation versetzt hat, braucht man nur noch sehr wenig zusätzliche Energie, um Reibungsverluste auszugleichen. Im Gegensatz zur Erzeugung eines künstlichen Schwerkraftfeldes, das ständig beträchtliche Energiemengen benötigt, um es aufrechtzuerhalten.«
Er zeigte auf die Henry Hudson. »Schaut euch mal das Shuttle direkt neben dem Schiff an. Wenn ich es als Maßstab nehme, würde ich schätzen, dass die Hudson achthundert Fuß lang, zweihundert Fuß breit und einhundertfünfzig Fuß hoch ist. Ein einziges Gravitationsfeld rund um dieses Baby zu erzeugen würde definitiv sämtliche Lichter in San Antonio ausgehen lassen. Selbst multiple Felder würden eine Menge Saft schlucken. Also haben sie entweder eine Energiequelle, die für die Schwerkraft ausreicht und obendrein alle anderen Schiffssysteme versorgt, zum Beispiel die Lebenserhaltung und nicht zuletzt den Antrieb, oder sie haben eine völlig neue Methode entdeckt, mit geringem Energieaufwand Gravitation zu erzeugen.«
»Trotzdem dürfte die Sache nicht billig sein.« Ich zeigte auf einen Kolonistentransporter rechts von der Henry Hudson. »Dieses Schiff ist radförmig. Und auch die Kolonialstation rotiert.«
»Die Kolonien scheinen ihre beste Technik dem Militär vorzubehalten«, sagte Jesse. »Und dieses Schiff wird nur dazu benutzt, neue Rekruten abzuholen. Ich glaube, du hast Recht, Harry. Wir haben keine Ahnung, worauf wir uns eingelassen haben.«
Harry grinste und wandte sich wieder der Henry Hudson zu, die langsam aus unserem Blickfeld wanderte, während sich die Kolonialstation weiterdrehte. »Ich schätze es, wenn sich andere Leute von meinen Überlegungen überzeugen lassen.«
Irgendwann wurden wir wieder von unseren Apparatschiks aufgescheucht. Wir sollten uns in einer Reihe aufstellen, damit wir geordnet das Shuttle besteigen konnten. Wir zeigten dem KU-Mitarbeiter am Gate unsere Ausweise und wurden auf einer Liste abgehakt, während ein Kollege uns einen persönlichen Datenassistenten überreichte. »Danke für Ihren Besuch auf der Erde, und hier ist ein hübsches Abschiedsgeschenk«, sagte ich zu ihm, doch er schien mich nicht zu verstehen.