»Molly Metcalf meinte, ich könnte hier Antworten finden«, meinte Mr. Stich. Sie hätten in diesem Tonfall genauso gut über das Wetter reden können. »Altes Wissen, das man nirgendwo sonst findet. Vielleicht sogar einen Hinweis auf eine Heilung meines Zustands. Oder wenigstens einen darauf, wie man bestimmte Aspekte davon mildern kann.«
William sah ihn abwägend an. »Sie haben selbst gewählt, was Sie jetzt sind. Bereuen Sie es jetzt?«
»Sie kennen diese Bibliothek besser als jeder andere«, sagte Mr. Stich. »Könnten Sie mir helfen?«
»Warum sollte ich?«, fragte William offen. »Nach allem, was Sie getan haben, warum sollte ich nicht entzückt über die Aussicht sein, dass Sie unweigerlich zur Hölle fahren?«
»Um zukünftige Leben zu retten?«, meinte Mr. Stich ruhig. »Damit es keine Pennys und keine Rafes mehr gibt.«
William schnaubte. »Ich schätze, es ist sicher etwas hier. Wir haben Bücher zu jedem Thema unter diversen Sonnen, vom Ungewöhnlichen bis hin zum Unglaublichen, vom Unwahrscheinlichen bis hin zum schlichtweg Unmöglichen. Ich bin mir sehr sicher, dass auch Sie irgendwo dabei sind. Es kommt darauf an, was Sie genau wollen, das ich finde.«
»Ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich bin«, sagte Mr. Stich. »Ich bin für alles, was ich bin und alles, was ich jemals getan habe, verantwortlich. Aber zum ersten Mal will ich das ändern.«
»Das würde darauf ankommen, mit wem und wie Sie diesen Handel einst abgeschlossen haben«, meinte William vorsichtig. »Einige dieser Verträge könnten neu verhandelt werden. Wollen Sie wieder menschlich werden?«
»Ich war immer menschlich«, sagte Mr. Stich. »Das ist das Problem. Ich will etwas anderes. Ich will einen Weg finden, meine Opfer wieder lebendig zu machen. Alle. All den Frauen, die ich in all den Jahren abgeschlachtet habe, will ich das Leben wiedergeben. Bis hin zu den armen fünf Frauen, die das alles möglich gemacht haben, damals, in diesem für die Jahreszeit zu warmen Herbst 1888.«
»Das tut mir leid, aber das geht nicht.«
Mr. Stich huschte unglaublich schnell vor, und plötzlich hatte er eine schimmernde, lange Klinge in der Hand. Bevor William überhaupt reagieren konnte, wurde das rasiermesserscharfe Messer gegen seine Kehle gepresst, direkt über den Adamsapfel. Mr. Stich starrte ungerührt in Williams Gesicht, sein kalter Atem brandete gegen Williams weit geöffnete Augen. Die Klinge presste sich gegen die Haut und ein kleiner, langsamer Blutfaden rann aus dem winzigen Schnitt, den das Messer geöffnet hatte. William saß sehr still.
»Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte«, meinte Mr. Stich.
»Wir haben alle Dinge in unserem Leben, die wir ungeschehen machen wollen«, meinte William behutsam. Er wollte ganz offensichtlich sehr gern schlucken, wagte es aber nicht. »Aber Sünden kann man nicht ungeschehen machen. Nur vergeben.«
»Das ist nicht genug«, sagte Mr. Stich.
»Ich weiß«, erwiderte William. Er sah auch weiterhin in den starren Blick von Mr. Stich, so enervierend das auch war, aber es war besser, als auf das Messer herunterzusehen, das an seinen Hals gehalten wurde. »Aber es gibt nichts in dieser Bibliothek, kein Buch und kein Wissen, mit dem man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Nur ein Mann konnte das je tun und ich denke, wir stimmen darin überein, dass Sie nicht er sind. Ich könnte Ihnen helfen, die Geister dieser armen, unglücklichen Frauen wiederzuerwecken, damit Sie mit ihnen kommunizieren können, oder ihre Körper zu Zombies zu machen, aber das ist nicht, was Sie wollen. Oder was Sie brauchen.«
Mr. Stich dachte einen langen Augenblick darüber nach, in dem William kaum atmete. Dann trat er plötzlich zurück und ließ sein langes Messer wieder verschwinden. William hob zögernd seine Hand an den Hals und atmete etwas freier, als er nur ein paar Tropfen Blut an seinen Fingerspitzen sah.
»Was gibt es noch?«, fragte Mr. Stich. Er sah in keine bestimmte Richtung und William fragte sich offenbar, ob Mr. Stich noch mit ihm redete.
»Was es noch gibt?«
»Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe, kann nicht aufhören, zu sein, was ich bin. Ich kann nicht einmal durch den Tod aufhören oder allem entkommen. Was bleibt mir übrig?«
»Da ist immer die Buße«, sagte William. »Tun Sie genügend Gutes, um Ihre Sünden auszugleichen.«
Mr. Stich dachte darüber nach. »Würde Töten zu einem guten Zweck dazugehören?«
»Das würde ich sagen, ja.«
Mr. Stich lächelte zum ersten Mal. »Dann ist es ja gut, dass ein Krieg ansteht.«
Er wandte sich um und ging fort. William sah ihm hinterher und betrachtete dann wieder das Blut an seinen Fingerspitzen.
Etwas später stand ich in dem rosenfarbenen Glühen des Sanktums, mit der Matriarchin an meiner Seite, und wartete auf die anderen, die ich herbestellt hatte. Ich wusste nicht, ob es an mir lag oder an den Zeiten, aber Seltsams rötliches Glühen beruhigte und erfreute mich nicht mehr so wie früher. Seltsam selbst war sehr still. Vielleicht war er nicht damit einverstanden, was ich von der Familie verlangte, mit der Rüstung und der Macht, die er so selbstlos zur Verfügung stellte. Aber ich konnte mir selbst nicht erlauben, mich darum zu kümmern. Ich musste einen Krieg gewinnen. Ich würde mich später damit befassen, falls ich dann noch lebte.
Wenigstens hoffte ich das.
»Es ist nie leicht«, sagte Martha plötzlich und ihre harsche, kalte Stimme warf in der großen, leeren Halle ein Echo. »Es ist niemals leicht, Agenten hinauszuschicken, vielleicht oder sogar wahrscheinlich in ihren Tod. Wir tun es, weil es notwendig ist, für das Wohl der Familie und der Welt. Aber es wird niemals einfacher.«
»Danke für den Versuch«, sagte ich. »Aber das zu wissen hilft nicht.«
»Das wird es«, sagte Martha. »Wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist, Edwin. Wer hätte gedacht, dass wir so viel gemeinsam haben?«
»Eddie«, sagte Seltsam plötzlich. »Tut mir leid, euch zu unterbrechen, aber euer Treffen wird warten müssen. Ich wurde gerade von den Sicherheitsleuten an den Arrestzellen informiert, dass man Sebastian ermordet hat.«
»Was?«, fragte die Matriarchin. »Das ist unmöglich! Nicht unter unserer Bewachung!«
»Was ist passiert?«, fragte ich und unterbrach die Matriarchin. »Hat er versucht, zu entkommen?«
»Nein«, sagte Seltsam. »Er wurde tot in seiner Zelle gefunden.«
»Wie konnte das nur passieren?«, fragte die Matriarchin. Sie klang ernstlich entrüstet. »Unsere Sicherheit ist die beste der Welt. Das muss sie sein.«
»Ich bekomme immer noch Details«, sagte Seltsam. Er klang gedämpft, beinahe entfernt; überhaupt nicht nach seinem typischen, heiteren Selbst. Ich vermutete, dass so viele schlechte Nachrichten hintereinander das wohl bewirkten. Und ich konnte mir nicht helfen, ich nahm auch an, dass unsere materielle Welt vielleicht auch eine große Enttäuschung für ihn war. Ich musste mich konzentrieren auf das, was Seltsam zu sagen hatte. »Zuerst dachten die Wachen, es sei Selbstmord. Bis sie in den Isoliertank hineingingen und das Ausmaß seiner Wunden entdeckten. Und die waren wirklich … enorm. Es scheint, als hätte man ihn aufgeschnitten, vom Hals bis hinunter in den Schritt. Aber es gibt keine Aufzeichnung, dass jemand den Tank betreten hätte. Kein Zeichen, dass jemand hineinging oder ihn verließ. Die Überwachungskameras zeigen uns nichts. Was, wie ich höre, unmöglich sein soll.«
»Halt uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden«, sagte ich nach einer Pause. »Und verdopple die Wachen an den Türen aller Arrestzellen.«
»Das ist alles?«, fragte Martha. »Edwin, wir müssen hinunter und das selbst in Augenschein nehmen!«
»Nein, das müssen wir nicht«, erwiderte ich. »Wir wären nur im Weg. Lass die Sicherheit ihren Job machen. Sie sind sehr gut darin.«