»Aber …«
»Sie wissen selbst, wie unmöglich das ist. Sie brauchen uns nicht, um ihnen über die Schulter zu sehen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, was wirklich wichtig ist und dürfen uns nicht ablenken lassen. Vielleicht wurde Sebastian genau deshalb getötet: um uns am Vorabend unserer Attacke abzulenken. Überhaupt: Warum Sebastian töten? Was hätte er uns schon sagen können?«
»Die Identität des langjährigen Verräters unserer Familie«, sagte Martha. »Nur einer von uns hätte die Schutzmaßnahmen umgehen können. Einer, der sie in- und auswendig kannte. Aber du hast recht, Edwin. Wir sollten uns nicht von dem ablenken lassen, was wirklich wichtig ist.«
Einer von uns. Ja. Ich wollte, dass es einer von uns war, so schlimm das auch sein mochte. Weil es sonst Molly hätte sein können. Ich wollte nicht darüber nachdenken, aber ich konnte es nicht aufhalten. Molly hätte zu Sebastian gelangen können, indem sie ihre Magie benutzte. Sie wollte ihn tot sehen wegen dem, was er ihr angetan hatte. Oder … sie hätte von dem Ding in ihr beeinflusst werden und zu einem Zweck töten können, der den Abscheulichen diente.
»Seltsam«, fragte ich. »Wo ist Molly gerade?«
»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, Eddie«, sagte Seltsam nach einer Pause. »Ich bin offenbar nicht in der Lage, sie irgendwo zu lokalisieren. Was merkwürdig ist …«
»Macht nichts«, sagte ich. »Ist nicht wichtig. Ich rede später mit ihr.«
Das Treffen fand schließlich statt, als die dafür nötigen Leute auftauchten. Giles Todesjäger war natürlich der Erste, mit dem Sinn eines Soldaten für Pünktlichkeit. Er sah ruhig und entspannt aus und unglaublich gefährlich, wie immer. Er verbeugte sich kurz vor mir und der Matriarchin, und es wäre schwer gewesen zu sagen, was das respektvollere Kopfnicken gewesen wäre. Ich begann zu denken, dass ich mich vielleicht doch mit ihm hätte duellieren sollen. Soldaten respektieren nur Stärke. Aber wenn ich verloren hätte … Ich hatte Giles kämpfen sehen und er war wirklich verdammt gut.
Als Nächste kamen Harry und Roger, beide fröhlich und unschuldig lächelnd, als ob sie nicht gerade erst versucht hätten, meine Molly zum Verrat zu überreden. Die Matriarchin funkelte beide wütend an, aber sie nahm ihre spitze Zunge an die Zügel, zum Wohl der Familie. Mir schossen eine Menge Dinge durch den Kopf, die ich hätte sagen können, aber ich beschränkte mich selbst auf ein höfliches Nicken. Ich brauchte Harry und Roger. Die Familie brauchte sie.
Mr. Stich schlenderte herein, begleitet vom Seneschall, und ich spürte, wie die Temperatur im Sanktum ein paar Grade sank. Wir sahen ihn alle an, aber keiner von uns hatte etwas zu sagen. Mr. Stich lächelte uns kühl an, als ob er peinliche Situationen wie diese gewohnt war. Er hatte sich für die Mission, die ich plante, sofort freiwillig gemeldet, in dem Moment, in dem ich sie ihm erklärt hatte und ich war froh, ihn an Bord zu haben. Solange der Seneschall da war, um ein Auge auf ihn zu werfen.
Der Nächste, der kam, war der Blaue Elf. Konnte sein, dass der nur zugestimmt hatte, um seinen Plan, einen Torques zu stehlen, wiedergutzumachen, aber er hatte nicht den Anstand, auch nur ein wenig schuldbewusst auszusehen. Er war in seinen besten, in allen Farben leuchtenden und sorgfältig geschneiderten Anzug gekleidet und lächelte alle an. Es war schwer, den Mann nicht zu mögen, aber die Mühe war es dennoch wert.
Der Waffenmeister kam herein und stellte sich etwas abseits auf, die Hände tief in die Taschen seines fleckigen und angekokelten Laborkittels gebohrt. Er vermied den Augenkontakt mit jedem anderen. Er wusste, die Mission, die ich plante, war abhängig von der neuen Waffe, die er entwickelt hatte. Offenbar hatte er keine Lust, hier bei dem Treffen Zeit damit zu verschwenden, ihre Funktionsweise zu erklären, wenn er diese Zeit auch damit hätte verbringen können, sie zu perfektionieren. Seitdem Onkel Jack sich von den Außeneinsätzen zurückgezogen hatte, hatte er seine sozialen Fähigkeiten weniger verloren als vielmehr weggeworfen.
Und wie immer als Letzter kam Callan Drood herein. Für ihn war Pünktlichkeit etwas, das andere Leute betraf. Er trug einen langen Ledermantel und einen Schlapphut mit breiter Krempe. Er sah aus, als sei er direkt von einem Viehtrieb gekommen. Callan hinterließ gern den Eindruck, dass man ihn von etwas viel Wichtigerem weggeholt hatte und dass er es nicht abwarten konnte, wieder dorthin zurückzukehren.
»Okay«, sagte ich laut, als alle versammelt waren. »Das ist sie. Die große Attacke, der große Vorstoß, um die Abscheulichen bei dem zu stoppen, was sie tun und sie davon abzuhalten, die Eindringlinge in unsere Realität zu bringen. Unser Geheimdienst hat es mit Mollys Hilfe geschafft, jedes einzelne Nest auf der Welt zu finden. Wir müssen sie alle gleichzeitig angreifen und sie und ihre Türme zerstören. Und das müssen wir beim ersten Mal schaffen, Leute, weil die Wettquoten sagen, dass wir keine zweite Gelegenheit kriegen werden. Ihr werdet sorgfältig ausgesuchte kleine Kampfgruppen, die aus unseren besten Kämpfern bestehen, gegen die wichtigsten und größten Ghoulstädte anführen; dort befinden sich die Türme, von denen der Geheimdienst annimmt, dass sie kurz vor der Fertigstellung stehen. Wenn sie einmal geschleift sind, werden wir uns von Ghoulstadt zu Ghoulstadt vorarbeiten, in ein Nest nach dem anderen eindringen, und sie in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit ausradieren. Bis sie alle weg sind. Nicht ein Nest, nicht ein Turm, nicht eine Drohne dürfen überleben. Und wir müssen es schnell tun, Leute. Wenn wir einmal begonnen haben, wird die Nachricht von Nest zu Nest eilen, übertragen durch das Kollektivbewusstsein der Abscheulichen. Und dann werden sie uns erwarten. Onkel Jack, erzähl doch diesen netten Leuten etwas über das unangenehme kleine Ding, dass du für sie zum Spielen entwickelt hast.«
Der Waffenmeister trat vor und runzelte die Stirn. Er hatte alles getan, was er konnte, um mich davon zu überzeugen, eine der Kampfgruppen zu führen, aber trotz all seiner Erfahrung als Frontagent war er jetzt zu wertvoll, um ihn einem Risiko auszusetzen. Er hatte es allerdings nicht sehr freundlich aufgenommen, als ich ihn auf diesen Umstand hinwies, und hatte dabei eine Sprache verwendet, die einem Mann seines Alters und seiner Position nicht gerade angemessen war.
»Ich habe eine neue Art von Bombe entworfen«, sagte er kurz. »Eine völlig neue Art, die darauf basiert, die andersdimensionale Energie eines Turms gegen ihn selbst zu richten. Das Resultat ist eine massive Explosion, die den Turm sowie jedes lebende Wesen innerhalb eines Hundert-Meilen-Radius komplett zerstört. Also solltet ihr alle verdammt sicher sein, dass ihr außerhalb der Ghoulstadt seid, bevor sie detoniert. Alles, was ihr tun müsst, ist, die Bombe ans Fundament des Turms zu legen, den Timer einzustellen und die Beine in die Hand zu nehmen. Seid sicher, die Wege in und aus der Ghoulstadt abzusichern, denn wir dürfen keine Drohnen entkommen lassen. Tut mir leid, Eddie. Ich weiß, du hast gehofft, dass ich ein Heilmittel finden könnte, das die Infizierten heilt, aber es gibt nichts, was ich tun kann. Niemand könnte irgendetwas tun. Wenn jemand einmal infiziert ist, dann ist er für uns verloren. Für die Menschheit. Wir alle wissen, dass die Drohnen die unschuldigen Opfer in diesem Spiel sind, aber wir müssen unsere Bemühungen auf die konzentrieren, die wir retten können - also auf den Rest der Welt.«
Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht glauben, was er sagte. Wollte nicht glauben, dass meine Molly hoffnungslos verloren war. Aber fürs Erste nickte ich nur und fuhr fort. Was konnte ich sonst tun?
»Euer Job ist es, einen Pfad durch die Drohnen zum Turm hin zu bahnen und die Bombe zu aktivieren«, sagte ich zu den anderen. »Lasst euch nicht ablenken. Verschwendet eure Zeit nicht damit, Drohnen zu töten, denn ihr müsst zu den Türmen gelangen. Hier geht's darum, ganze Nester zu zerstören, nicht einzelne Drohnen.«
»Das musst du nicht extra betonen«, meinte Harry. »Wir sind nicht blöd. Ich stelle übrigens fest, dass du keine der Kampfgruppen anführst, Eddie. Warum?«
»Weil er hier gebraucht wird«, entgegnete die Matriarchin kurz. »So wie ich auch. Jemand muss hierbleiben, um den Überblick zu behalten. Etwas, so wurde mir gesagt, in dem du bemerkenswert schlecht bist.«
»Natürlich«, murmelte Harry. »Ich wusste, dass es etwas in der Art sein würde.«
Und dann wirbelten wir alle herum, als U-Bahn Ute ins Sanktum platzte. Es war so lange her, dass ich sie gesehen hatte, dass ich sie tatsächlich vergessen hatte. Sie sah sogar schlampiger aus als gewöhnlich, was schon eine Leistung war. Ihr langer, verschlissener Mantel war zerrissen, zerlumpt und mit verschiedensten Sorten von Dreck beschmutzt und ihr langes Haar war ein Durcheinander schmieriger Strähnen. Aber ihr Mund war fest und ihre Augen brannten grimmig. Sie marschierte direkt zu mir und pflanzte sich vor mir auf.
»Ich habe nach einem Weg gesucht, mich nützlich zu machen und etwas beizutragen«, sagte sie mit ihrer rauen, kratzigen Stimme. »Etwas, um Mollys Vertrauen in mich und auch meine Gegenwart hier zu rechtfertigen. Und ich denke, ich habe es gefunden. Ich weiß mehr über versteckte Wege als jeder andere. All die geheimen Gänge, interdimensionalen Abkürzungen und verbotenen Türen. In meinen verschiedenen Leben als Glücksvampirin und Unterirdische, auf all den Wegen runter und wieder rauf hatte ich die Gelegenheit, die meisten von ihnen mehrmals zu benutzen. Aber ich habe für euch etwas Neues gefunden oder wenigstens etwas, das so alt und versteckt ist, dass es so gut wie neu ist.
Es hat etwas Zeit gebraucht, durch die dunkleren Regionen zu reisen, mit alten Freunden und Feinden und Verbündeten zu reden, aber ich habe einen völlig neuen und geheimen Weg gefunden, den ihr benutzen könnt. Eine Annäherungsmöglichkeit, die euer Feind nie erwarten wird, weil keiner sie seit Ewigkeiten benutzt hat. Hauptsächlich, weil es zu gefährlich ist. Aber ihr seid Droods, ihr lacht der Gefahr ins Gesicht, nicht wahr? Ihr könnt diesen Weg benutzen, um in der Welt überallhin zu kommen, egal wo ihr seid, und dabei unentdeckt ankommen. Es handelt sich um die Unterseite des Regenbogenwegs, der Weg der Verdammnis.«
Sie hielt inne und holte Luft. Sie sah mich erwartungsvoll an.
»Der Name klingt nicht gerade vertrauenerweckend«, bemerkte ich vorsichtig. »Könnte es einen Grund geben, warum ihn so lange niemand benutzt hat? Irgendetwas Besonderes, das ihn so gefährlich macht?«
»Das weiß keiner mit Sicherheit«, sagte U-Bahn Ute und gab ihr Bestes, nicht allzu defensiv zu klingen. »Die Leute hörten einfach auf, am anderen Ende rauszukommen, wenn sie ihn benutzten. Die Wetten stehen gut, dass etwas darin lebt und die Reisenden verschlingt. Etwas wirklich Mieses.«
»Horch was kommt von draußen rein, fragte der Wolf und fraß das Rotkäppchen«, murmelte Harry.
Ute warf ihm einen bösen Blick zu. »Gleich schlag ich dich und dann tut es weh.«
»Nun, vielen Dank dafür, dass du so viel Zeit und Mühen geopfert hast, um uns zu helfen, Ute«, sagte ich. »Aber wir haben bereits unsere eigenen zeitlosen und nicht feststellbaren Transportwege, uns in die Ghoulstädte zu transportieren. Aber wenn irgendwelche Probleme aufkommen, bin ich sicher, dass wir uns alle besser fühlen werden, weil wir deinen Weg der Verdammnis haben, auf den wir zurückgreifen können.«
Ich war freundlich und jeder hier wusste es. Einschließlich U-Bahn-Ute. Sie nickte nur steif, wandte uns den Rücken zu und stakste aus dem Sanktum. Ich sah die anderen an.
»Ende der Besprechung. Ihr wisst alle, was ihr wissen müsst. Legt einen Stopp in der Waffenmeisterei ein und holt euch eure Bomben. Dann macht euch mit den Leuten in euren Kampfgruppen vertraut, bevor ihr euch im Lageraum für den Angriff abmeldet.«
»Ich habe ein paar Fragen«, ließ sich Harry vernehmen.
»Ja, ich dachte mir schon, dass du das hast. Was ist los, Harry?«
»Nun, um mal anzufangen: Wo ist die berüchtigte Molly Metcalf? Sollte eine Hexe mit ihren zweifellos vorhandenen Talenten nicht unter den Glücklichen sein, die eine solche Kampfgruppe führen?«
»Oh, sie wird dabei sein«, sagte ich. »Und sich selbst nützlich machen.«
Molly hatte selbst zu den Nestern gehen und ihren berüchtigten Aufruhr anzetteln wollen, aber ich hatte Nein dazu sagen müssen. Ich konnte nicht riskieren, dass ihre infizierte Persönlichkeit plötzlich in der Nähe eines Turms an die Oberfläche kam. Sie sagte, dass sie das verstünde. Seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen.
»Und diese ›bemerkenswerten Transportwege‹«, fügte Harry hinzu. »Hast du irgendeine neue Art Wundergerät, das du in der Tasche mit dir herumträgst?«
Ich musste grinsen. »Wirklich lustig, dass du das sagst, Harry …«