»Es ist zwanzig Jahre her, seit ich zum letztenmal einen solchen Weg zu machen hatte.«
»Sind Sie damals allein gegangen?« fragte Avery und wünschte sofort, diese Frage nicht gestellt zu haben. Es war so leicht, Leclerc zu verletzen. »Damals war es einfacher. Wir konnten sagen, sie wären fürs Vaterland gefallen. Wir mußten ihnen keine Einzelheiten erzählen; niemand erwartete das.« Also war es >wir<, dachte Avery. Ein anderer Junge, eines dieser lachenden Gesichter an der Wand. »Jeden Tag fiel damals einer der Piloten. Wir machten Aufklärung, wissen Sie, auch Sondermissionen. Manchmal schäme ich mich: Ich kann mich nicht einmal an ihre Namen erinnern. Einige von ihnen waren so jung.«
In Averys Vorstellung zog eine tragische Prozession von Gesichtern vorüber, die vom Grauen gezeichnet waren: Mütter und Väter, Freundinnen und Frauen; und er versuchte, sich Leclerc vorzustellen, wie er naiv und doch selbstsicher unter ihnen stand. Wie ein Politiker am Schauplatz einer Katastrophe. Sie waren am Ende einer Erhebung angelangt. Eine armselige Gegend. Die Straße führte hinunter zu einer Reihe schmutziger, fensterloser Häuser. Darüber erhob sich eine einzeln stehende Mietskaserne: Roxburgh Gardens.
Die Kette der Straßenlaternen beleuchtete die Ziegelwand und teilte sie in regelmäßige Zellen. Es war ein großes Gebäude, auf seine Art sehr häßlich, der Beginn einer neuen Welt, zu deren Füßen der schwarze Schutt der alten lag: zerfallende, schmierige Häuser, zwischen denen sich traurige Gesichter wie Treibholz in einem vergessenen Hafen durch den Regen bewegten. Leclercs kleine Fäuste waren geballt; er stand ganz still.
»Hier?« sagte er. »Taylor hat hier gewohnt?«
»Warum sollte er nicht? Hier wird anscheinend aufgebaut, Altstadtsanierung.« Dann verstand Avery. Leclerc schämte sich. Taylor hatte ihn schamlos betrogen. Das war nicht die Gesellschaft, die von ihrer Organisation beschützt wurde, diese Slums rings um den Turm von Babeclass="underline" dafür war in Leclercs Ordnung der Dinge kein Platz. Der Gedanke, daß ein Mitglied von Leclercs Stab sich tagtäglich aus dem Geruch und Gestank einer solchen Gegend in das Heiligtum der Organisation schleppte - hatte er kein Geld, keine Rente? Hatte er nicht ein bißchen auf der hohen Kante wie wir alle, nur ein- oder zweihundert, um sich aus diesem Elend herauszukaufen?
»Es ist nicht ärger als Blackfriars Road«, sagte Avery willkürlich; es sollte Leclerc trösten. »Jeder weiß, daß wir früher in der Baker Street waren«, gab Leclerc zurück.
Sie gingen schnell zum Eingang der Mietskaserne, vorbei an Schaufenstern, die mit alten Kleidern und rostigen Elektroöfen vollgestopft waren, mit all dem traurigen, nutzlosen Kram, den nur die Armen kaufen. Es gab einen Wachszieher. Seine Kerzen waren gelb und verstaubt wie Fragmente eines verfallenen Grabmals.
»Welche Nummer?« fragte Leclerc. »Vierunddreißig, sagten Sie.«
Sie gingen zwischen mächtigen, mit groben Mosaiken verzierten Säulen, wobei sie den mit rosa Zahlen beschrifteten Hinweispfeilen aus Plastik folgten. Sie zwängten sich zwischen Reihen alter Autowracks hindurch und kamen schließlich zu einem Eingang, auf dessen Schwelle Milchkartons standen. Es gab keine Tür, nur eine Treppe mit Gummibelag, die bei jedem Schritt quietschte. Es roch nach Essen und nach dieser flüssigen Seife, die man in Bahnhofstoiletten findet. Auf der breiten Gipswand forderte eine handgemalte Aufschrift, Ruhe zu halten. Irgendwo spielte ein Radio. Sie stiegen zwei Treppen hinauf und blieben vor einer grünen Tür mit Glasscheiben stehen. Darauf stand in weißen Bakelitziffern die Nummer 34. Leclerc nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von den Schläfen. Es war die gleiche Geste, die er wohl vor dem Betreten einer Kirche gemacht hätte. Es hatte stärker geregnet, als ihnen bewußt geworden war. Ihre Mäntel waren ziemlich naß. Er läutete. Avery hatte plötzlich große Angst. Er warf einen Blick auf Leclerc und dachte: das ist deine Sache, du sagst es ihr. Die Musik schien lauter geworden zu sein. Sie lauschten angestrengt auf irgendein anderes Geräusch, aber sie hörten keines.
»Warum haben Sie ihn Malherbe genannt?« fragte Avery unvermittelt.
Leclerc läutete noch einmal, und dann hörten sie es beide: ein Wimmern, halb das Schluchzen eines Kindes, halb das Jammern einer Katze. Es war ein erstickter, metallisch klingender Seufzer. Während Leclerc zurücktrat, griff Avery nach dem bronzenen Türklopfer auf dem Briefkasten und bewegte ihn heftig. Als das Echo verhallt war, hörten sie aus der Wohnung einen leichten, zögernden Schritt. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schnappschloß geöffnet. Dann vernahmen sie wieder, diesmal viel lauter und deutlicher, den gleichen klagenden Ton. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Avery sah ein Kind, ein dünnes, blasses kleines Mädchen, das nicht älter als zehn Jahre sein mochte. Sie trug wie Anthony eine Stahlbrille. In den Armen hielt sie eine Puppe, deren rosa Glieder stumpfsinnig vom Körper abstanden und deren gemalte Augen zwischen zerzausten Baumwollfransen hervorstarrten. Der verschmierte Puppenmund klaffte halb offen, der Kopf hing wie gebrochen oder tot zur Seite. Man nennt so etwas Sprechpuppe, aber kein Lebewesen wird je derartige Laute von sich geben.
»Wo ist deine Mutter?« fragte Leclerc. Seine Stimme klang aggressiv, als fürchte er sich.
Das Kind schüttelte den Kopf. »Ist in der Arbeit.«
»Wer paßt denn auf dich auf?«
Sie sprach langsam, als denke sie an etwas anderes.
»Die Mama kommt am Nachmittag nach Hause. Ich darf nicht aufmachen.«
»Wo ist sie? Wohin geht sie?«
»Arbeiten.«
»Wer kocht dir das Mittagessen?« beharrte Leclerc. »Was?«
»Wer gibt dir zu essen?« sagte Avery schnell.
»Mrs. Bradley. Nach der Schule.«
Dann fragte Avery: »Wo ist dein Vater?« Das Kind lächelte und legte einen Finger an die Lippen.
»Er ist mit einem Flugzeug weg«, sagte sie, »um Geld zu bekommen. Aber ich darf es nicht sagen. Es ist ein Geheimnis.«
Keiner von ihnen sprach. »Er bringt mir ein Geschenk mit«, fügte sie hinzu. »Woher?« fragte Avery.
»Vom Nordpol, aber es ist ein Geheimnis.« Ihre Hand lag noch immer auf dem Türgriff. »Von wo der Weihnachtsmann kommt.«
»Sag deiner Mutter, daß zwei Herren hier waren«, sagte Avery. »Von der Firma deines Vaters. Wir kommen am Nachmittag wieder.«
»Es ist wichtig«, sagte Leclerc. Das Mädchen schien seine Angst zu verlieren, als es hörte, daß die beiden Männer seinen Vater kannten. »Er ist mit einem Flugzeug weg«, wiederholte sie. Avery suchte in seiner Tasche und gab ihr die 5 Shilling, die er in der Nacht von dem Taxifahrer auf Sarahs Zehnshillingstück herausbekommen hatte. Sie schloß die Tür und ließ sie in diesem verfluchten, von träumerischer Radiomusik erfüllten Stiegenhaus stehen.
4. Kapitel
Sie standen auf der Straße und sahen einander nicht an. »Warum haben Sie diese Frage gestellt? Die Frage nach ihrem Vater?« sagte Leclerc. Als Avery keine Antwort gab, fügte er zusammenhanglos hinzu: »Es handelt sich nicht darum, ob man Leute mag.«
Leclerc wirkte manchmal so, als ob er weder höre noch fühle. Dann schien er davongetrieben zu werden, während er innerlich nach einem entschwundenen Ton lauschte, wie ein Tänzer, nachdem die Musik zu seinen Bewegungen plötzlich verstummt ist. Eine Stimmung tiefster Traurigkeit schien dann über ihm zu liegen, oder die ratlose Verwirrung, die ein Betrogener empfindet.
»Ich fürchte«, sagte Avery mitfühlend, »daß ich heute nachmittag nicht mit Ihnen hierher zurückkommen kann. Vielleicht möchte Woodford Sie begleiten.«
»Bruce taugt nicht für so was.« Dann fügte Leclerc hinzu: »Werden Sie um Viertel vor elf zur Konferenz kommen?«
»Möglicherweise werde ich schon vor dem Ende weg müssen. Ich muß noch ins Rondell und gepackt habe ich auch noch nicht. Es geht Sarah nicht besonders gut. Aber ich werde so lange als möglich im Büro bleiben. Es tut mir leid, daß ich diese Frage gestellt habe. Wirklich.«