Leclerc sah ihn an. »Es soll niemand davon wissen. Ich muß zuerst mit ihrer Mutter sprechen. Vielleicht gibt es eine Erklärung. Taylor war ein alter Hase. Er kannte die Spielregeln.«
»Ich werde es nicht erwähnen. Sie können sich darauf verlassen. Auch Mayfly nicht.«
»Ich muß Haldane von Mayfly unterrichten. Er wird natürlich widersprechen. Ja, so werden wir sie nennen... Die ganze Operation. Wir werden sie Mayfly nennen.« Der Gedanke tröstete ihn. Sie beeilten sich, ins Büro zu kommen, nicht wegen der Arbeit, sondern weil sie auf der Flucht waren, weil sie die Anonymität suchten, die ihnen auf einmal zu einem Bedürfnis geworden war. Averys Zimmer lag neben dem Leclercs. Auf seiner Tür stand >Direktions-Assistent< Diese Bezeichnung stammte von einer Amerika-Reise, zu der Leclerc zwei Jahre zuvor eingeladen gewesen war. Die leitenden Männer wurden einfach mit der Funktion bezeichnet, die sie innerhalb der Organisation erfüllten. Avery hieß deshalb einfach >Chefbüro<, und auch wenn Leclerc seinen Titel jede Woche geändert hätte, so konnte er doch die Umgangssprache nicht ändern. Um Viertel vor elf kam Woodford in sein Büro, wie Avery erwartet hatte, um ein bißchen mit ihm zu plaudern und ein paar Worte mit ihm über Dinge zu wechseln, die nicht direkt auf der Tagesordnung standen.
»Was geht eigentlich vor, John?« Er zündete seine Pfeife an, lehnte dann seinen großen Kopf zurück und löschte das Streichholz mit weit ausholenden, schwingenden Handbewegungen. Er war früher Lehrer gewesen; ein Sportler. »Das würde ich Sie fragen.«
»Der arme Taylor!«
»Eben.«
»Ich will wirklich nicht inkonsequent sein«, sagte Woodford und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder, während er noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt war.
»Ich will wirklich nicht inkonsequent sein, John«, wiederholte er, »aber da gibt's noch etwas, um das wir uns trotz des tragischen Todes von Taylor kümmern sollten.« Er verstaute die Tabakschachtel in der Tasche seines grünen Anzuges und sagte: »Das Archiv.«
»Das Archiv ist Haldanes Revier.«
»Ich hab' nichts gegen unsern alten Adrian. Er ist ein guter Kamerad. Wir arbeiten schon seit zwanzig Jahren zusammen.«
Und deshalb, dachte Avery, bist also auch du ein guter Kamerad.
Woodford hatte die Angewohnheit, beim Sprechen immer näher zu rücken, wobei er seine mächtige Schulter auf seinen Partner zu bewegte wie ein Pferd, das sich an einem Pfosten scheuert. Er beugte sich vor und sah Avery mit einem ernsten Blick an; ganz die Erscheinung eines einfachen, aufrechten Mannes voll tiefer Sorge, eines anständigen Menschen, der gezwungen war, sich zwischen Freundschaft und Pflicht zu entscheiden. Sein Anzug war aus haarigem Stoff, der zu dick war, um knittern zu können, und deshalb wie eine Bettdecke Wülste bildete. Die Knöpfe waren aus braunem Hirschhorn.
»Das Archiv, John, ist vollkommen auf dem Hund. Wir beide wissen das ganz genau. Papiere werden nicht richtig eingeordnet und Akten werden nicht zur rechten Zeit wieder vorgelegt.« Er schüttelte voll Verzweiflung den Kopf. »Seit Mitte Oktober vermissen wir jetzt schon diesen taktischen Bericht über den Marine-Frachtverkehr. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst.«
»Adrian Haldane hat einen Suchzettel losgelassen«, sagte Avery. »Wir sind alle dran beteiligt, nicht nur Adrian. Akten können schließlich mal verlorengehen. Das ist seit April der erste, Bruce. Ich halte das nicht für schlecht, wenn man bedenkt, wie viel wir arbeiten. Ich dachte, das Archiv sei unsere stärkste Seite. Die Akten sind in tadellosem Zustand. Soviel ich weiß, ist das Verzeichnis unserer Aufklärungsobjekte einfach einmalig. Das ist alles Adrians Verdienst, oder nicht? Aber wenn Sie sich Sorgen machen, reden Sie doch mit Adrian selbst darüber.«
»Aber nein. So wichtig ist es auch wieder nicht.« Carol brachte den Tee herein. Woodford trank aus einer riesigen Steingut-Tasse, die sein Monogramm trug, in großen, erhabenen Buchstaben, wie die Glasur auf einer Torte. Während Carol die Kanne hinstellte, sagte sie: »Wilf Taylor ist tot.«
»Ich bin schon seit eins hier«, log Avery, »und habe mich damit befaßt. Wir haben die ganze Nacht gearbeitet.«
»Der Direktor ist ganz außer Fassung«, sagte sie. »Wie war seine Frau, Carol?« Carol war ein gut angezogenes Mädchen, vielleicht etwas größer als Sarah. »Niemand hat sie je zu Gesicht bekommen.« Sie verließ das Zimmer, wobei Woodford ihr nachsah. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und grinste. Avery wußte, daß er jetzt gleich eine Bemerkung darüber machen würde, wie es wäre, mit Carol zu schlafen, und das ekelte ihn plötzlich an.
»Diese Tasse hat wirklich Ihre Frau gemacht, Bruce?« fragte er schnell. »Sie soll im Töpfern ganz groß sein.«
»Die Untertasse auch«, sagte Woodford. Er begann von den Kursen zu erzählen, die seine Frau besuchte, und davon, auf welch amüsante Weise das in Wimbledon in Mode gekommen war, und wie irrsinnig sich seine Frau dafür begeisterte.
Fast elf Uhr: sie konnten hören, wie sich die anderen auf dem Gang versammelten.
»Ich werde jetzt wohl besser hinüberschauen«, sagte Avery, »ob er schon bereit ist. Die letzten acht Stunden waren ziemlich schlimm für ihn.« Woodford nahm seine Schale und trank einen Schluck Tee. »Wenn sich die Gelegenheit ergibt«, sagte er, »erwähnen Sie beim Chef bitte diese Archivgeschichte, John. Ich möcht's nicht gern vor all den anderen anschneiden. Adrian scheint doch ein bißchen alt zu werden.«
»Der Direktor hat jetzt gerade ziemlich viel andere Sachen im Kopf, Bruce.«
»Ja, sicherlich.«
»Er kommt Haldane nicht gerne in die Quere, wie Sie wissen.«
An der Tür seines Zimmers wandte er sich zu Woodford um und fragte: »Erinnern Sie sich daran, ob es mal einen Mann namens Malherbe in der Organisation gegeben hat?«
Woodford erstarrte. »Du meine Güte, natürlich. Junger Kerl wie Sie, während des Krieges. Guter Gott!« Dann sagte er sehr ernst, aber nicht in seinem üblichen Ton: »Vor dem Chef erwähnen Sie diesen Namen besser nicht. Die Sache mit dem jungen Malherbe hat ihn mächtig mitgenommen. Er war einer von den Spezialpiloten. Wissen Sie, die beiden standen einander wirklich sehr nahe.«
Bei Tageslicht machte Leclercs Zimmer nicht so sehr den Eindruck von Unordnung, sondern mehr den eines Provisoriums. Man konnte glauben, es sei von seinem Inhaber hastig requiriert worden, als er gerade unter großem Zeitdruck stand und nicht wußte, wie lange er würde bleiben müssen. Über zwei Böcken lag eine Tischplatte, und darauf waren nicht drei oder vier, sondern gleich Dutzende von Landkarten verstreut - einige von ihnen in einem Maßstab, der sogar Straßen und Gebäude erkennen ließ. An einer Wandtafel hingen die Papierstreifen aus einem Telegrafenapparat. Sie waren auf rosa Bögen geklebt und wurden von einer großen Metallklemme gehalten, wie die Korrekturfahnen in einer Druckerei. In einer Ecke war das Bett aufgestellt worden, auf dem ein Überwurf lag. Neben dem Waschbecken hing ein frisches Handtuch. Der Schreibtisch - ein graues Behördenstahlmöbel - war neu. Die Wände waren schmutzig. Da und dort war die helle Farbe abgeblättert und darunter kam ein dunkles Grün zum Vorschein. Es war ein kleiner, rechteckiger Raum mit Vorhängen aus den Beständen der staatlichen Gebäudeverwaltung. Wegen dieser Vorhänge hatte es größere Auseinandersetzungen um die Frage gegeben, welchem Verwaltungsdienstgrad die Stellung Leclercs entsprach. Avery konnte sich an diesen Streit als die einzige Gelegenheit erinnern, bei der Leclerc sich etwas um die Verbesserung seines Zimmers bemüht hatte. Das Kaminfeuer war fast ganz heruntergebrannt. An manchen Tagen, wenn es sehr windig war, wollte das Feuer überhaupt nicht brennen, und immer konnte Avery in seinem Nebenzimmer das Rieseln des Rußes im Schornstein hören. Avery sah zu, wie die anderen hereinkamen. Zuerst Woodford, dann Sandford, Dennison und McCulloch. Sie alle wußten bereits, was mit Taylor passiert war. Avery konnte sich leicht vorstellen, wie die Neuigkeit die Runde durch die einzelnen Abteilungen gemacht hatte - keineswegs als große Schlagzeile, sondern als kleine, erfreuliche Sensation, die von Zimmer zu Zimmer weiterwanderte und der Tagesarbeit Glanz verlieh, so wie sie diesen Männern hier Glanz verliehen hatte und den gleichen vorübergehenden Optimismus, den man bei einer Gehaltserhöhung empfindet. Sie würden nun Leclerc beobachten wie Gefangene ihren Wärter. Seine gewöhnliche Verhaltensweise war ihnen nur allzu vertraut, aber jetzt warteten sie darauf, daß er seine Routine aufgab. In der ganzen Organisation gab es keinen einzigen Menschen, der nicht gewußt hätte, daß man Leclerc und Avery mitten in der Nacht herausgeklingelt hatte, und daß der Chef in seinem Büro schlafen würde.