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Leclerc nickte nachsichtig zu Woodford hinüber, als sei auch er von dieser Erinnerung amüsiert. »Der arme Mensch war schon bei jeder alliierten Dienststelle in Norddeutschland gewesen, ohne daß auch nur einer auf ihn hätte hören wollen. Jimmy Gorton hat mit ihm geplaudert.«

Leclercs Art, die Dinge zu beschreiben, legte die Vermutung nahe, daß Jimmy Gorton der einzige intelligente Mensch unter lauter Narren war. Jetzt ging Leclerc zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm aus der silbernen Dose eine Zigarette, zündete sie an, und griff dann nach einem Aktendeckel, auf dem ein dickes rotes Kreuz leuchtete. Geräuschlos legte er den Band vor sie auf den Tisch. »Das ist Jimmys Bericht. Es ist auch für hohe Ansprüche eine erstklassige Arbeit.« Die Zigarette sah zwischen seinen Fingern besonders lang aus. Ohne Zusammenhang fügte er hinzu: »Der Name des Verräters war Pritsche.«

»Verräter?« warf Haldane schnell ein. »Der Mann ist ein kleiner Flüchtling, ein Eisenbahner. Gewöhnlich sagen wir von derartigen Leuten nicht, daß sie Verrat begehen.«

»Der Mann ist nicht nur Eisenbahner«, sagte Leclerc rechtfertigend, »sondern versteht auch etwas von Maschinen und Fotografie.«

McCulloch schlug die Akte auf und begann methodisch, die einzelnen Blätter umzuwenden. Sandford sah ihm durch seine goldgefaßte Brille dabei zu. »Am 1. oder 2. September - wir wissen das nicht genau, weil sich der Mann nicht mehr daran erinnern kann - machte er zufällig Doppelschicht in den Lagerschuppen von Kalkstadt. Einer seiner Kollegen war krank. Er hatte von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags zu arbeiten, und dann von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends. Als er zur Arbeit kam, waren am Bahnhofseingang ein Dutzend Vopos. Es gab keinen Personenverkehr. Man prüfte seine Papiere anhand einer Liste und befahl ihm, sich von den Lagerschuppen am östlichen Ende des Bahnhofes fernzuhalten.« Leclerc setzte bedachtsam hinzu: »Man sagte ihm, er riskiere - falls er den Schuppen nahe käme -, erschossen zu werden.« Das machte Eindruck. Woodford sagte, so etwas sei für die Deutschen typisch.

»Es sind die Russen, gegen die wir kämpfen«, warf Haldane ein.

»Er ist ein komischer Vogel. Anscheinend hat er mit ihnen gestritten. Er sagte ihnen, daß er mindestens so zuverlässig sei wie sie selbst, ein guter Deutscher und Parteimitglied. Er zeigte ihnen seinen Eisenbahnerausweis, Bilder von seiner Frau und Gott weiß was noch. Es half natürlich nichts, weil sie ihm nur befahlen, die Anweisungen zu befolgen und von den Schuppen wegzubleiben. Irgendwie scheint er ihnen aber gefallen zu haben, denn als sie sich um zehn Uhr eine Suppe machten, riefen sie ihn herüber und boten ihm eine Tasse voll an. Bei der Suppe fragte er sie, was eigentlich los sei. Sie waren zugeknöpft, aber er konnte spüren, daß sie aufgeregt waren. Dann passierte etwas.« Leclerc fuhr fort: »Etwas sehr Wichtiges. Einer von den Jüngeren platzte heraus, was auch immer in dem Schuppen sei, sie könnten damit die Amerikaner innerhalb von Stunden aus Westdeutschland hinausjagen. Im selben Augenblick kam ein Offizier und schickte ihn an seine Arbeit zurück.« Haldane ließ ein tiefes, hoffnungsloses Husten hören, das wie ein Echo in einem uralten Gewölbe klang. Was für ein Offizier, fragte jemand, deutsch oder russisch?

»Deutsch. Das ist das Interessante daran. Russen waren überhaupt keine dort.«

»Der Flüchtling hat keine gesehen«, unterbrach Haldane scharf. »Das ist alles, was wir wissen. Wir wollen doch genau bleiben.« Wieder hustete er. Es war sehr störend.

»Wie du willst. - Er ging nach Hause und aß zu Mittag. Er war ziemlich ärgerlich, daß er in seinem eigenen Bahnhof von ein paar jungen Kerlen, die gerade Soldaten spielten, herumkommandiert wurde. Er trank ein paar Gläser Schnaps und grübelte über die Lagerschuppen nach. - Adrian, falls dir dein Husten zu schaffen macht.?« Haldane schüttelte den Kopf. »Dann fiel ihm ein, daß der Schuppen an seiner Nordseite an eine alte Hütte stieß und daß in der Trennwand ein Ventilator eingelassen war. Er bekam Lust, einmal durch diesen Ventilator in den Schuppen zu schauen. Um sich sozusagen an den Vopos zu rächen.«

Woodford lachte.

»Dann beschloß er, noch weiter zu gehen. Er würde durch den Ventilator fotografieren, was immer in dem Schuppen versteckt sein mochte.«

»Er muß verrückt gewesen sein«, bemerkte Haldane. »Ich kann das nicht verstehen.«

»Verrückt oder nicht: das hatte er jedenfalls vor. Er war zornig, weil sie ihm nicht vertrauen wollten. Er fand, daß er ein Recht darauf hatte, zu wissen, was in dem Schuppen war. Er hatte eine Exa-Zwei, eine Spiegel-Reflex-Kamera mit einer Linse, ein ostdeutsches Produkt. Es hat ein billiges Gehäuse, kann aber mit allen Zusatzobjektiven der Exakta verwendet werden. Natürlich hat es viel weniger Belichtungszeiten als die Exakta.« Er blickte fragend zu den Technikern Dennison und McCulloch. »Hab ich recht, meine Herren? - Sie müssen mich korrigieren.« Sie grinsten dümmlich, denn da war nichts zu korrigieren. »Er hatte ein gutes Weitwinkelobjektiv. Die Schwierigkeit war nur das Licht. Seine Schicht begann erst wieder um vier, wenn es schon dämmrig werden würde. Dann wäre noch weniger Licht in der Halle. Er besaß einen schnellen Agfa-Film, den er sich für irgendeine besondere Gelegenheit aufgehoben hatte. Seine Empfindlichkeit war 26 DIN. Er entschloß sich, diesen Film zu nehmen.« Leclerc machte eine Pause - mehr der Wirkung halber, als um Zeit für Fragen zu lassen. Haldane fragte: »Warum hat er nicht bis zum nächsten Tag gewartet?«

Aber Leclerc überhörte das. »In diesem Bericht werden Sie eine umfassende Darstellung Gortons finden, wie der Mann in die Hütte gelangte, sich auf ein Ölfaß stellte und die Bilder durch den Ventilator schoß. Ich werde das jetzt nicht alles wiederholen. Er verwendete die weiteste Blende, nämlich zwo-acht, und schoß mit verschiedenen Belichtungszeiten zwischen einer Fünfundzwanzigstel und zwo Sekunden. Ein begrüßenswertes Beispiel deutscher Sorgfalt.« Niemand lachte. »Die Belichtungszeiten waren natürlich geschätzt. Nur die letzten drei Bilder zeigen irgend etwas. Hier sind sie.«

Leclerc sperrte das Stahlfach seines Schreibtisches auf und nahm einen Stoß großer Hochglanzfotos heraus. Dabei lächelte er ein wenig, wie ein Mann, der sein eigenes Spiegelbild betrachtet. Alle drängten sich um ihn, außer Haldane und Avery, die die Bilder schon vorher gesehen hatten. Etwas war da.

Man konnte es beim flüchtigen Hinschauen sehen: etwas verbarg sich zwischen den zerfließenden Schatten. Sah man jedoch genauer hin, dann schloß sich das Dunkel wieder und verschluckte die schwachen Konturen. Und doch war da etwas: die verwischten Umrisse eines Kanonenrohres, das aber spitz zuzulaufen schien und viel zu lang für seine Lafette war; es war da etwas wie ein Transportfahrzeug, ein leichter Schimmer, der von einer Rampe hätte stammen können.

»Ohne Zweifel würden sie Planen darübergezogen haben«, kommentiere Leclerc, während er ihre Gesichter in der Hoffnung studierte, etwas Zuversicht darin aufkeimen zu sehen.

Avery sah auf seine Uhr. Es war zwanzig Minuten nach elf. »Ich werde jetzt bald gehen müssen, Herr Direktor«, sagte er. Noch immer hatte er Sarah nicht angerufen. »Ich muß wegen meines Flugtickets noch in die Buchhaltung.«

»Nur noch zehn Minuten«, sagte Leclerc bittend, und Haldane fragte: »Wohin fährt er?«

»Er muß sich um Taylor kümmern. Vorher hat er noch eine Verabredung im Rondell.«