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»Armer John«, bemerkte sie, legte ihr Buch nieder und sah ihn forschend an. »Loyalität ohne Glauben. Es ist sehr schwer für dich.« Sie sagte das völlig leidenschaftslos, als habe sie ein Übel in der Gesellschaftsstruktur erkannt. Ihr Kuß war wie ein Verrat ihrer eigenen Grundsätze.

Haldane wartete, bis der letzte aus dem Zimmer gegangen war. Er selbst war später gekommen und er würde später gehen - immer anders als die anderen. Leclerc sagte: »Warum tust du mir das an?« Er sprach wie ein von seinem Auftritt ermüdeter Schauspieler. Die Landkarten und Fotografien lagen noch immer zwischen den leeren Tassen und Aschenbechern verstreut auf dem Tisch. Haldane gab keine Antwort. »Was versuchst du zu beweisen, Adrian?«

»Was hast du da von einem Mann gesagt, den du hineinschicken willst?«

Leclerc ging zum Waschbecken und ließ Wasser in ein Glas laufen.

»Du magst Avery nicht, nicht wahr?« fragte er. »Er ist jung - von diesem Kult habe ich genug.«

»Ich werde heiser, wenn ich die ganze Zeit rede«, sagte Leclerc. »Trink du auch eines. Wird deinem Husten guttun.«

»Wie alt ist Gorton?« Haldane nahm das Glas, trank und gab es zurück.

»Fünfzig.«

»Mehr. Er ist in unserem Alter. Er war während des Krieges in unserem Alter.«

»Man vergißt. Ja, er muß fünf- oder sechsundfünfzig Jahre sein.«

»Ein >Ständiger<?« drängte Haldane. Leclerc schüttelte den Kopf. »Er erfüllt die Voraussetzungen nicht«, sagte er. »Unterbrochene Dienstzeit. Nach dem Krieg ging er zur Kontrollkommission. Als sie zusperrte, wollte er in Deutschland bleiben. Hat eine deutsche Frau, glaube ich. Er kam zu uns, und wir gaben ihm einen Vertrag. Wir könnten es uns niemals leisten, ihn dort zu behalten, wenn er ein >Ständiger< wäre.« Geziert wie ein Mädchen trank er einen Schluck Wasser. »Vor zehn Jahren hatten wir fünfzig Mann im Einsatz. Jetzt haben wir neun. Wir haben nicht einmal unsere eigenen Kuriere, keine Geheimkuriere. Das haben heute morgen schon alle gewußt. Warum hat keiner etwas gesagt?«

»Wie oft übermittelt er Flüchtlingsberichte?« Leclerc zuckte mit den Schultern. »Ich sehe nicht alles, was er uns schickt«, sagte er. »Deine Leute müßten es wissen. Der Markt wird schwächer, stell ich mir vor, seit sie in Berlin die Mauer gebaut haben.«

»Mir legen sie nur die besseren Berichte vor. Aus Hamburg muß das der erste gewesen sein, den ich seit einem Jahr gesehen habe. Ich war stets der Meinung, er hätte andere Aufgaben.« Leclerc schüttelte den Kopf.

»Wann wird die Erneuerung seines Vertrages fällig?« fragte Haldane.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

»Ich nehme an, er macht sich ziemliche Sorgen. Bekommt er eine Abfindung, wenn er ausscheidet?«

»Er hat nur einen Drei-Jahres-Vertrag. Da gibt's keine Abfindung, keine Orden. Er hat natürlich die Möglichkeit, auch nach dem sechzigsten Lebensjahr noch weiterzuarbeiten, falls wir ihn wollen. Das ist der Vorteil, Vertragsangestellter zu sein.«

»Wann wurde sein Vertrag das letztemal erneuert?«

»Da fragst du am besten Carol. Es muß zwei Jahre her sein, vielleicht länger.«

Wieder sagte Haldane: »Du sprichst davon, einen Mann hineinzuschicken?«

»Ich bin heute nachmittag noch einmal beim Minister.«

»Du hast schon Avery geschickt. Das hättest du nicht machen sollen, weißt du.«

»Irgend jemand mußte fahren. Hätte ich nach deiner Meinung das Rondell um jemanden bitten sollen?«

»Avery war ziemlich unverschämt«, bemerkte Haldane.

Der Regen floß in die Dachrinne und hinterließ auf den schmutzigen Fensterscheiben graue Spuren. Leclerc schien das Sprechen Haldane überlassen zu wollen, aber Haldane hatte nichts zu sagen. »Ich weiß noch nicht, was der Minister über Taylors Tod denkt. Er wird mich heute nachmittag fragen, und ich werde ihm meine Ansicht darlegen. Wir tappen natürlich alle im dunkeln.« Seine Stimme gewann wieder an Stärke. »Aber er könnte mich vielleicht anweisen - das ist durchaus drin, Adrian -, er könnte mir den Befehl geben, einen Mann hineinzuschicken.«

»Und?«

»Angenommen, ich würde dich bitten, eine Einsatzabteilung aufzubauen, die Voruntersuchungen zu machen, Papiere und Ausrüstung vorzubereiten - angenommen, ich würde dich bitten, einen Agenten anzuwerben, ihn auszubilden und seinen Einsatz zu leiten - würdest du es tun?«

»Ohne dem Rondell etwas zu sagen?«

»Keine Einzelheiten. Vielleicht werden wir hin und wieder von ihren Einrichtungen Gebrauch machen müssen. Das heißt aber nicht, daß wir ihnen die ganze Geschichte erzählen müssen. Das ist eine Frage der Sicherheit, wieviel sie wirklich wissen müssen.«

»Also ohne das Rondell?«

»Warum nicht?«

Haldane schüttelte den Kopf. »Weil es nicht unsere Arbeit ist. Wir sind einfach nicht dafür eingerichtet. Überlasse die Sache dem Rondell und hilf ihnen bei dem militärischen Kram. Übergib es einem alten Hasen, irgend jemandem wie Smiley oder Leamas...«

»Leamas ist tot.«

»Also dann Smiley.«

»Smiley ist als Agent erledigt.« Haldane schoß das Blut in die Wangen. »Dann Guillam oder einem der anderen. Einem von den Profis. Sein Stall ist derzeit groß genug. Geh und sprich mit Control. Überlaß den Fall ihm.«

»Nein«, sagte Leclerc mit fester Stimme und stellte sein Glas auf den Tisch. »Nein, Adrian. Du bist ebensolange wie ich in der Organisation, du kennst unsere Vorschrift.

>Es sind alle nötigen Schritte - so heißt es darin -, >alle möglichen Schritte zu unternehmen, um aus jenen Gebieten, in denen das Erforderliche nicht durch die konventionellen militärischen Hilfsmittel beschafft werden kann, militärische Informationen herbeizuschaffen, sie zu überprüfen und zu analysieren.<« Er unterstrich die Worte durch Schläge mit seiner kleinen Faust. »Wie, glaubst du, habe ich die Erlaubnis zum Überfliegen bekommen?«

»In Ordnung«, gab Haldane zu, »wir haben unsere Vorschrift. Aber die Welt hat sich geändert. Jetzt wird nach anderen Regeln gespielt. Damals waren wir die großen Macher - Schlauchboote in einer mondlosen Nacht, ein gekapertes feindliches Flugzeug, Funk und all das. Wir kennen das, du und ich. Wir haben es gemeinsam gemacht. Aber jetzt ist alles anders. Es ist ein anderer Krieg, eine andere Art des Kampfes. Auch im Ministerium weiß man das ganz genau.« Er fügte hinzu: »Und verlaß dich nicht zu sehr aufs Rondell. Von diesen Leuten hast du keine Wohltaten zu erwarten.«

Sie sahen einander erstaunt an. Es war ein Augenblick gegenseitigen Erkennens. Leclerc sagte beinahe flüsternd: »Es begann mit unseren Funknetzen, nicht wahr? Erinnerst du dich, wie das Rondell eines nach dem anderen schluckte? Das Ministerium pflegte zu sagen: >In der polnischen Abteilung droht eine Doppelgleisigkeit, Leclerc. Ich habe mich entschlossen, daß Control sich um Polen kümmern soll.< Wann war das? Im Juli achtundvierzig. Jahr für Jahr ist das so weitergegangen. Warum, glaubst du, behandeln sie eine Auswertungsabteilung so gönnerhaft? Sicher nicht wegen deiner wunderschönen Akten und Karteikarten. Sie haben uns dort, wo sie uns haben wollen, verstehst du nicht? Satelliten. Wir machen keinen einzigen Einsatz mehr. Das ist ihre Methode, uns einzuschläfern. Du weißt doch, wie man uns heute in Whitehall nennt? Die im Ausgedinge.«

Darauf folgte eine lange Stille.

Haldane sagte: »Ich mache Auswertung und keine Einsätze.«

»Früher hast du aber welche gemacht, Adrian.«

»Wie wir alle.«

»Du kennst das Ziel. Du kennst den ganzen Hintergrund. Das kann niemand außer dir. Nimm dir, wen du willst - Avery, Woodford, wen immer du willst.«

»Wir sind nicht mehr an Menschen gewöhnt. Sie einzusetzen, meine ich.« Haldane entwickelte ungewöhnliche Schüchternheit. »Ich mache Auswertung. Ich arbeite mit Akten.«

»Bis jetzt konnten wir dir nichts anderes geben. Wie lang ist es schon her? Zwanzig Jahre.«