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»Weißt du, was ein Raketenstützpunkt bedeutet?« fragte Haldane. »Weißt du, welcher Wirbel damit verbunden ist? Sie brauchen Abschußrampen, Abschirmanlagen, Kabelbatterien, Kontrollbauten; sie brauchen Bunker zur Lagerung der Sprengköpfe, Tankwagen für die Treibstoffe und Oxydationsmittel. Und diese Sachen müssen zuerst dort sein. Raketen kriechen nicht heimlich durch die Nacht; sie ziehen wie ein Wanderzirkus über Land. Wir hätten schon früher und vor allem mehr Hinweise erhalten. Wir oder das Rondell. Was Taylors Tod anbelangt...«

»Um Himmels willen, Adrian, glaubst du denn, Geheimdienstarbeit hätte mit unumstößlichen philosophischen Wahrheiten zu tun? Muß denn jeder Priester beweisen, daß Christus am Weihnachtstag geboren wurde?«

Er reckte sein kleines Gesicht nach vorne, während er etwas aus ihm herauszuziehen versuchte, von dem er zu wissen schien, daß es irgendwo vorhanden war. »Du kannst nicht alles berechnen, Adrian. Wir sind keine Akademiker, wir sind Staatsbeamte. Wir müssen uns mit den Dingen befassen, wie sie sind. Wir müssen uns mit Menschen, mit Ereignissen befassen!«

»Also gut, mit Ereignissen: als er durch den Fluß schwamm, wie hat er da den Film aufbewahrt? Wie hat er die Aufnahmen wirklich gemacht? Wieso ist kein einziges Bild verwackelt? Er hatte getrunken, er balancierte auf den Zehenspitzen: die Belichtungszeiten waren lang genug, um ein Bild zu verwackeln, nein? Sagte er nicht, er hätte den Verschluß nach Gefühl offengehalten?«

Haldane schien sich zu fürchten, aber nicht vor Leclerc, nicht vor dem Einsatz, sondern vor sich selbst. »Warum hat er Gorton etwas umsonst gegeben, das er anderswo zu verkaufen suchte? Warum hat er überhaupt sein Leben riskiert, um diese Aufnahmen zu machen? Ich schickte Gorton eine Liste zusätzlicher Fragen. Er versucht noch immer, diesen Mann zu finden, wie er sagt.«

Sein Blick schweifte zu dem Flugzeugmodell und den Akten auf Leclercs Schreibtisch. Dann fuhr er fort: »Du denkst an Peenemünde, nicht wahr? Du möchtest, daß es wie in Peenemünde ist.«

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du tun wirst, wenn ich diesen Befehl bekomme.«

»Den wirst du nie bekommen. Niemals, niemals wirst du ihn bekommen.« Er sprach mit großer Entschiedenheit, fast mit Triumph. »Wir werden eingeschläfert, siehst du das nicht ein? Du selbst hast es gesagt. Sie wollen, daß wir schlafen gehen, nicht in den Krieg.« Er stand auf. »Deshalb ist alles ganz gleichgültig. Es ist schließlich eine rein akademische Angelegenheit. Oder kannst du dir wirklich vorstellen, daß uns Control unterstützt?«

»Sie sind bereit, uns einen Kurier zu stellen.«

»Ja. Ich finde das höchst seltsam.«

Haldane blieb an der Tür vor einer Fotografie stehen.

»Das ist Malherbe, nicht wahr? Der Junge, der fiel.

Warum hast du diesen Namen gewählt?«

»Ich weiß nicht. Er ist mir einfach eingefallen. Das Gedächtnis spielt einem oft komische Streiche.«

»Du hättest Avery nicht schicken sollen. Bei unserer Arbeit verwendet man nicht einen Schreibtischmann für einen Auftrag wie diesen.«

»Ich habe in der letzten Nacht die Kartei durchgesehen. Wir haben einen Mann, der dazu geeignet wäre«, sagte Leclerc. Und dann nachdrücklich: »Gelernter Funker, spricht Deutsch, ledig.« Haldane erstarrte. Schließlich fragte er: »Wie alt?«

»Vierzig. Etwas darüber.«

»Er muß damals sehr jung gewesen sein.«

»Er hat seine Sache gut gemacht. Sie hatten ihn in Holland geschnappt, und er ist ihnen entkommen.«

»Wie wurde er geschnappt?«

Leclerc zögerte eine Sekunde, ehe er antwortete:

»Das ist nicht verzeichnet.«

»Intelligent?«

»Er scheint befähigt zu sein.« Wieder Stillschweigen.

»Das bin ich auch. Warten wir ab, was Avery zurückbringt.«

»Warten wir ab, was das Ministerium sagt.« Leclerc wartete, bis das letzte Geräusch von Haldanes Husten auf dem Gang verhallt war, ehe er seinen Mantel anzog. Er würde einen Spaziergang machen, etwas frische Luft schnappen und in seinem Klub zu Mittag essen. Das Beste, was es geben würde. Er fragte sich, was es sein werde. In den letzten Jahren war es dort sehr viel schlechter geworden. Nach dem Essen würde er zu Taylors Witwe gehen. Dann ins Ministerium.

Während des Mittagessens im >Gorringe< sagte Woodford zu seiner Frau: »Der junge Avery macht seinen ersten Einsatz. Clarkie hat ihn geschickt. Er sollte was draus machen.«

»Vielleicht wird er auch umgebracht«, sagte sie gehässig. Sie durfte nichts trinken - Anweisung des Arztes. »Dann könnt ihr ein wirkliches Fest feiern. Himmel, das war' eine tolle Sache! Auf zum Ball in die Blackfriars Road.« Ihre Unterlippe zitterte. »Warum sind die Jungen immer so verflucht wunderbar? Wir waren jung, nicht wahr.? Himmel, wir sind es noch! Was stimmt nicht mit uns? Wir können nicht darauf warten, alt zu werden, nicht wahr? Wir können nicht -«

»Ist gut, Babs«, sagte er. Er fürchtete, daß sie weinen könnte.

 

6. Kapitel

 

START

Im Flugzeug erinnerte sich Avery an den Tag, an dem Haldane nicht im Büro erschien. Es war zufällig der Erste eines Monats - es mußte Juli gewesen sein-, und Haldane kam nicht zum Dienst. Bis zu Woodfords Anruf über das Haustelefon hatte Avery nichts davon gewußt. Haldane sei wahrscheinlich krank, hatte Avery ihm geantwortet, oder er habe irgendeine persönliche Sache erledigen müssen. Aber Woodford war nicht zu beschwichtigen. Er sei in Leclercs Zimmer gewesen und habe auf der Urlaubstabelle nachgesehen, sagte er. Haldanes Urlaub sei erst für den August vorgemerkt.

»Rufen Sie in seiner Wohnung an, John«, hatte ihn Woodford gedrängt. »Sprechen Sie mit seiner Frau. Versuchen Sie herauszubekommen, was mit ihm los ist.«

Avery war so erstaunt, daß ihm die Worte fehlten: die beiden arbeiteten seit zwanzig Jahren zusammen, und sogar er wußte, daß Haldane Junggeselle war. »Versuchen Sie zu erfahren, wo er ist«, beharrte Woodford, »los, ich befehle Ihnen: rufen Sie in seiner Wohnung an.«

Also rief er an. Er hätte Woodford sagen können, er solle es doch selbst machen, aber er hatte sich das nicht getraut. Haldanes Schwester hob ab. Haldane liege im Bett, sein altes Lungenleiden mache ihm wieder zu schaffen. Er habe sich geweigert, ihr die Telefonnummer der Organisation zu geben. Als Averys Blick auf den Kalender fiel, wurde ihm klar, warum Woodford so aufgeregt war: es war der Beginn eines neuen Quartals. Es wäre denkbar gewesen, daß Haldane einen neuen Posten gefunden und die Organisation verlassen hatte, ohne Woodford etwas zu sagen. Als Haldane ein oder zwei Tage später wieder erschien, war Woodford ungewöhnlich liebenswürdig zu ihm und ignorierte tapfer seine sarkastischen Bemerkungen. Er war ihm für seine Rückkehr dankbar. Danach hatte Avery eine Zeitlang Angst gehabt. Da sein Vertrauen in die Organisation erschüttert war, betrachtete er sie jetzt kritischer.

Er bemerkte, daß sie sich gegenseitig legendäre Fähigkeiten zuschrieben - ein Komplott, an dem sie alle außer Haldane teilnahmen. Leclerc stellte Avery zum Beispiel einem Mitglied seines Ministeriums nie ohne irgendein aufwertendes Schlagwort vor. »Avery ist der strahlendste unserer neuen Sterne« oder - zu älteren Männern - »John ist mein Gedächtnis. Sie müssen John fragen.« Aus dem gleichen Grund vergaben sie sich gegenseitig ihre Schnitzer, denn sie wagten es sich um ihrer selbst willen nicht einzugestehen, daß es in der Organisation auch Platz für Versager gab. Avery anerkannte, daß sie ihnen Schutz vor der Unüberschaubarkeit des modernen Lebens bot und einen Ort darstellte, wo es noch immer klare Fronten gab. Für ihre Mitglieder hatte die Organisation fast religiösen Charakter. Wie Mönche ihrem Orden, maßen sie ihrer Vereinigung ein mystisches Eigenleben zu, das nichts zu tun hatte mit der saumseligen, sündigen Schar von Männern, aus der sie sich zusammensetzte. Während sie durchaus zynisch über die Fähigkeiten ihrer Mitbrüder herziehen oder sich höhnisch über ihre eigenen Kämpfe um einen Platz in der Hierarchie lustig machen konnten, brannte ihr Glaube an die Organisation in einer abgeschiedenen Kapelle. Sie nannten ihn Patriotismus.