All dies erfüllte Averys Herz mit einer heißen Welle der Zuneigung, während er das dunkel werdende Meer dort unten betrachtete und das kalte Licht der Sonne, das sich in den Wellen brach. Woodford mit seiner Pfeife und seiner ungehobelten Art wurde Teil dieser geheimen Elite, zu der jetzt auch Avery gehörte. Haldane - vor allem Haldane - mit seinen Kreuzworträtseln und seinen Absonderlichkeiten verkörperte den kompromißlosen, reizbaren und zurückhaltenden Intellektuellen. Jetzt tat es ihm leid, daß er unhöflich zu ihm gewesen war. Dennison und McCulloch erschienen ihm als die unübertrefflichen Techniker: stille Männer, die bei Sitzungen den Mund nicht aufmachten, aber unermüdlich waren und letzten Endes recht behielten. Er dankte Leclerc, dankte ihm herzlich für das Privileg, mit diesen Männern bekannt sein zu dürfen, und dankte ihm für diesen aufregenden Auftrag. Er dankte ihm dafür, daß er ihm die Möglichkeit gegeben hatte, aus der früher oft empfundenen Unsicherheit zu Erfahrung und Reife aufzurücken, Schulter an Schulter mit den anderen ein im Feuer des Krieges gestählter Mann zu werden. Er dankte ihm für die Klarheit seiner Führung, die Ordnung in der Anarchie seines Herzens schuf. Er malte sich aus, wie er eines Tages auch den heranwachsenden Anthony durch diese schäbigen Gänge führen und ihn dem alten Pine vorstellen könnte, der mit Tränen in den Augen in seiner Loge aufstehen und liebevoll die zarte Kinderhand ergreifen würde.
In dieser Szene spielte Sarah keine Rolle. Avery berührte leicht eine Ecke des länglichen Briefumschlages in seiner Innentasche. Er enthielt sein Geld: zweihundert Pfund in einem blauen Behördenumschlag. Er hatte gehört, im Krieg hätten die Leute solche Sachen in das Futter ihrer Kleider eingenäht, und es wäre ihm sehr willkommen gewesen, hätte man das gleiche jetzt auch für ihn getan. Ein kindischer Einfall, wie er wohl wußte, ja, er lächelte sogar darüber, sich solchen Träumen hingegeben zu sehen.
Dann fiel ihm der Besuch ein, den er heute morgen bei Smiley gemacht hatte. So rückschauend, fürchtete er sich ein ganz klein wenig vor Smiley. Und es fiel ihm das Kind an der Tür ein. Ein Mann muß sich gegen Gefühle verhärten.
»Ihr Mann hat hervorragende Arbeit geleistet«, sagte Leclerc. »Ich kann Ihnen keine Einzelheiten verraten. Ich bin überzeugt, daß er sehr tapfer starb.« Ihr Mund war verschmiert und häßlich. Leclerc hatte noch nie jemanden so sehr weinen sehen; es war wie eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. »Was meinen Sie mit tapfer?« stammelte sie. »Wir sind nicht im Krieg. Damit ist Schluß, mit all diesem hochtrabenden Gerede. Er ist tot«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in ihrem angewinkelten Arm, der wie eine vergessene Puppe auf dem Eßtisch lag. Aus einer Ecke starrte das Kind herüber. »Ich glaube«, sagte Leclerc, »Sie sind einverstanden, wenn ich eine Pension beantrage. Sie können das alles uns überlassen. Je früher wir uns damit befassen, desto besser.« Als wäre es die Maxime seines Hauses, erklärte er: »Eine Pension vermag alles in ein anderes Licht zu rücken.«
Der Konsul wartete neben dem Beamten der Paßkontrolle. Er kam ihm ohne ein Lächeln entgegen. Er tat nur seine Pflicht. »Sind Sie Avery?« fragte er. Avery gewann den Eindruck eines großen, strengaussehenden Mannes mit gerötetem Gesicht, der einen Filzhut und dunklen Mantel trug. Sie gaben sich die Hand. »Sie sind er britische Konsul, Mr. Sutherland.«
»Konsul Ihrer Majestät, genaugenommen«, entgegnete er etwas säuerlich. »Da gibt's einen Unterschied, wissen Sie.« Er sprach mit schottischem Akzent. »Wieso wußten Sie, wie ich heiße?« Sie gingen gemeinsam auf den Haupteingang zu. Es war alles sehr einfach. Avery bemerkte ein Mädchen hinter dem Schalter, blond und sehr hübsch. »Es ist nett von Ihnen, daß Sie den Weg heraus gemacht haben«, sagte Avery. »Es sind nur fünf Kilometer von der Stadt.« Sie stiegen ins Auto.
»Er wurde weiter oben auf der Straße getötet«, sagte Sutherland. »Wollen Sie die Stelle sehen?«
»Ja, das könnte ich machen. Um meiner Mutter davon zu berichten.« Er trug eine schwarze Krawatte. »Sie heißen wirklich Avery, nicht wahr?«
»Selbstverständlich; Sie haben meinen Paß doch bei der Kontrolle gesehen.«
Sutherland gefiel diese Bemerkung nicht, und Avery wünschte, sie nicht gemacht zu haben. Der Konsul startete den Wagen. Als sie gerade in die Mitte der Fahrbahn hinausziehen wollten, wurden sie von einem Citroen überholt.
»Verdammter Idiot«, zischte Sutherland. »Die Straßen sind wie Eis. Ich nehme an, das ist einer von diesen Piloten. Die haben kein Gefühl mehr für Geschwindigkeit.« Während das Auto vor ihnen die lange, über die Dünen führende Straße hinunterraste, wobei es hinter sich eine kleine Wolke aus Schnee aufwirbelte, konnten sie die Umrisse einer Schirmmütze vor dem hellen Fleck der Windschutzscheibe sehen. »Woher kommen Sie?« fragte er. »Aus London.«
Sutherland wies geradeaus: »Dort ist Ihr Bruder gestorben. Dort oben auf dem Abhang. Die Polizei glaubt, daß der Fahrer sehr voll gewesen sein muß. Hier sind sie sehr scharf, wenn jemand im alkoholisierten Zustand fährt, wissen Sie.« Es klang wie eine Warnung. Avery starrte auf das flache, schneebedeckte Land hinaus und dachte an den Engländer Taylor, wie er einsam die Straße entlangtrottete und seine schwachen Augen vor Kälte tränten.
»Nachher gehen wir zur Polizei«, sagte Sutherland. »Man erwartet uns. Dort werden Sie alle Einzelheiten erfahren. Haben Sie sich schon ein Zimmer hier besorgt?«
»Nein.«
Als sie die Höhe des Hügels erreichten, sagte Sutherland mit widerwilliger Ehrfurcht: »Es war hier, falls Sie aussteigen wollen.«
»Nicht nötig.«
Sutherland beschleunigte etwas, als habe er es eilig, von der Stelle wegzukommen.
»Ihr Bruder war auf dem Weg zum Hotel. Zum >Regina<, dort vorne. Es gab kein Taxi.« Als sie auf der anderen Seite des Hügels hinunterfuhren, sah Avery die breite Lichterfront eines Hotels. »Überhaupt keine Entfernung, wirklich nicht«, bemerkte Sutherland. »Er hätte es in fünfzehn Minuten geschafft. Weniger. Wo wohnt Ihre Mutter?« Diese Frage kam für Avery völlig unvorbereitet. »In Woodbridge, Suffolk.« Dort fand gerade eine Nachwahl statt. Es war die erste Stadt, die ihm einfiel, obwohl er sich nicht für Politik interessierte. »Warum hat er sie nicht angegeben?«
»Bedaure, ich verstehe nicht.«
»Als nächste Verwandte. Warum hat Malherbe nicht seine Mutter, sondern Sie angegeben?« Vielleicht war die Frage nicht ernst gemeint, vielleicht diente sie ihm nur dazu, Avery zum Reden zu bringen, auf jeden Fall aber war sie lästig. Avery war noch immer von der Reise abgespannt und wünschte, ohne Vorbehalte betrachtet und nicht diesem Verhör unterworfen zu werden. Es kam ihm auch zum Bewußtsein, daß er sein angebliches Verwandtschaftsverhältnis mit Taylor nicht genügend ausgearbeitet hatte. Was hatte Leclerc in dem Fernschreiben angegeben: Halbbruder oder Stiefbruder? Nervös versuchte er sich eine Folge von Familienereignissen vorzustellen, die ihm zu einer Antwort auf Sutherlands Frage hätten verhelfen können - Todesfälle, Wiederverheiratung oder zerrüttete Ehen.
»Hier ist das Hotel«, sagte der Konsul plötzlich und fügte dann hinzu: »Das geht mich natürlich nichts an. Er kann angeben, wen immer er will.« Entrüstung war bei Sutherland zur Gewohnheit geworden, fast eine Philosophie. Er sprach immer so, als liege jedes seiner Worte in ständigem Widerspruch zur allgemeinen Auffassung.
Schließlich sagte Avery: »Sie ist alt. Man wollte sie vor einem Schock bewahren. Ich nehme an, daß er daran gedacht hat, als er das Paßformular ausfüllte. Sie war krank, sie hat ein schwaches Herz. Sie ist operiert worden.« Es klang sehr kindisch. »Aha.«
Sie hatten den Stadtrand erreicht. »Es muß eine Leichenschau gemacht werden«, sagte Sutherland. »Das ist hier Gesetz, wenn es sich um einen gewaltsamen Tod handelt.«