Peersen begann einen Brief nach dem anderen zu betrachten, wobei er einige in den vor ihm liegenden Aktendeckel schob und andere in die Schublade zurücklegte. Ab und zu, während er ein Blatt auf den Stoß vor ihm legte, murmelte er: »Ah so«, oder »Ja-ja«. Avery fühlte, wie ihm der Schweiß über den Körper rann. Seine verkrampften Hände waren feucht. »Und Ihr Bruder hieß Malherbe?« fragte Peersen, als er mit dem Sortieren fertig war. Avery nickte. »Natürlich.«
Der Polizeibeamte lächelte. »Keineswegs natürlich«, sagte er und hob seine Zigarre, wobei er durchaus freundlich nickte, als habe er ein neues Argument. »Alles, was er besaß, seine Briefe, seine Wäsche, der Führerschein, alles gehört Mr. Taylor. Kennen Sie einen Taylor?«
Etwas begann sich in Avery zu verkrampfen. Der Umschlag, was sollte er mit dem Umschlag machen? Sollte er schnell auf die Toilette gehen und ihn vernichten, ehe es zu spät war? Er bezweifelte, daß es funktionieren würde: der Umschlag war aus hartem, glänzendem Papier. Selbst wenn er ihn zerriß - die Schnitzel würden schwimmen und sich nicht hinunterspülen lassen. Es war ihm klar, daß Peersen und Sutherland in der Erwartung einer Antwort auf ihn blickten, aber das einzige, worauf er seine Gedanken konzentrieren konnte, war der Umschlag, der plötzlich so schwer in seiner Brusttasche steckte. Schließlich brachte er heraus. »Nein, kenne ich nicht. Mein Bruder und ich.« Stiefbruder oder Halbbruder? »... mein Bruder und ich hatten nicht viel Kontakt miteinander. Er war älter, wir sind eigentlich gar nicht miteinander aufgewachsen. Er arbeitete mal hier, mal dort. Er konnte sich nie zu etwas Dauerhaftem entschließen. Vielleicht war dieser Taylor ein Freund von ihm, der.« Avery zuckte mit den Schultern und versuchte tapfer anzudeuten, daß Malherbe sogar für ihn eine ziemlich geheimnisvolle Erscheinung gewesen sei.
»Wie alt sind Sie?« fragte Peersen. Sein Respekt vor dem schmerzlichen Verlust des anderen schien im Schwinden begriffen zu sein. »Zweiunddreißig.«
»Und Malherbe?« fragte er beiläufig. »Um wieviele Jahre war er älter, bitte schön?« Sutherland und Peersen hatten Malherbes Paß gesehen und wußten sein Alter. Man erinnert sich leicht an das Alter von Leuten, die gerade gestorben sind. Nur Avery, sein Bruder, hatte nicht die geringste Ahnung. »Zwölf«, sagte er auf gut Glück. »Mein Bruder war vierundvierzig.« Warum hatte er sich so festgelegt? Peersen runzelte die Brauen. »Nur vierundvierzig? Dann stimmt der Paß nicht.«
Peersen wandte sich zu Sutherland, deutete mit seiner Zigarre auf die Tür am entfernteren Ende des Raumes und sagte fröhlich, als habe er einen alten Streit zwischen zwei Freunden beendet: »Jetzt sehen Sie, wieso ich ein Problem mit der Identifizierung habe.«
Sutherland sah sehr erzürnt aus. »Es wäre nett, wenn sich Mr. Avery die Leiche ansehen wollte«, schlug Peersen vor, »dann könnten wir sicherer sein.«
Sutherland sagte: »Inspektor Peersen. Die Identität des Mr. Malherbe geht aus seinem Paß hervor. Das Auswärtige Amt in London hat mit Sicherheit festgestellt, daß der Name Mr. Averys von Mr. Malherbe als der seines nächsten Verwandten angegeben worden ist. Sie sagten mir, daß über die Umstände seines Todes keine Zweifel bestünden. Es ist die übliche Verfahrensweise, daß Sie mir nun seine persönlichen Effekten zu treuen Händen übergeben, damit ich sie bis zum Abschluß der noch im Vereinigten Königreich durchzuführenden Formalitäten aufbewahren kann. Es ist anzunehmen, daß sich Mr. Avery nun der Leiche seines Bruders annehmen darf.« Peersen schien zu zögern. Er zog die restlichen Papiere Taylors aus dem Stahlfach seines Schreibtisches und legte sie zu den anderen Papieren, die bereits vor ihm aufgeschichtet waren. Dann sprach er einige finnische Sätze ins Telefon. Nach kurzer Zeit brachte ein Polizist einen alten Lederkoffer und eine Inventarliste herein, die Sutherland unterschrieb. Während dieser Prozedur sprachen weder Avery noch Sutherland auch nur ein Wort mit dem Inspektor. Peersen begleitete sie den ganzen Weg bis zum Haupteingang. Sutherland bestand darauf, den Koffer und die Papiere selbst zu tragen. Sie gingen zum Auto. Avery wartete darauf, daß Sutherland etwas sagte, aber er schwieg. Die Fahrt dauerte ungefähr zehn Minuten. Die Stadt war nur spärlich beleuchtet. Avery bemerkte, daß auf der Straße in zwei Fahrspuren Chemikalien ausgestreut waren. Die Straßenmitte und die Rinnsteine waren mit Schnee bedeckt. Die Straßenlampen verbreiteten ein kränkliches Neonlicht, das in der sich verdichtenden Dunkelheit zu versickern schien. Da und dort erkannte Avery steile Schindeldächer, das Kreischen einer Straßenbahn oder den hohen weißen Helm eines Polizisten. Gelegentlich warf er einen verstohlenen Blick zurück durch das Heckfenster.
7. Kapitel
Woodford stand Pfeife rauchend im Flur und grinste dem Büropersonal zu, das gerade dabei war, nach Hause zu gehen. Dies war für ihn die schönste Stunde des Tages. Bei Arbeitsbeginn am Morgen war es anders, denn es war aus Tradition üblich, daß untergeordnete Dienstgrade um halb zehn, die höheren aber zwischen zehn und zehn Uhr fünfzehn in der Dienststelle erschienen. Die höchsten Beamten der Organisation blieben theoretisch bis spät in die Nacht hinein, um ihre Arbeiten in Ruhe erledigen zu können. Leclerc pflegte zu sagen, daß ein Gentleman niemals auf die Uhr sah. Dieser Brauch stammte noch aus dem Krieg, als die Offiziere die frühen Morgenstunden damit verbrachten, von Aufklärungsflügen zurückgekehrte Piloten auszufragen, oder die späten Abendstunden mit der Abfertigung eines Agenten. Damals hatten die untergeordneten Dienstgrade in Schicht gearbeitet, während die Offiziere kamen und gingen, wie es ihnen ihre Arbeit erlaubte. Jetzt erfüllte die Tradition einen anderen Zweck. Denn nun gab es Tage, ja oft sogar Wochen, in denen Woodford und seine Kollegen kaum wußten, wie sie ihre Zeit bis halb sechs Uhr ausfüllen sollten. So ging es allen außer Haldane, auf dessen gebeugten Schultern der Ruhm der Organisation, eine hervorragende Auswertungsabteilung zu haben, lastete. Die anderen entwickelten Pläne, die nie in die Tat umgesetzt wurden, stritten freundschaftlich über Urlaubs- und Dienstpläne oder die Qualität ihrer Büromöbel und kümmerten sich mehr als nötig um die Sorgen der Mitglieder ihrer Abteilung.
Berry, der Beamte aus dem Kode-Zimmer, trat in den Korridor, bückte sich und steckte die Fahrradklammern an seine Hose.
»Wie geht's der Gattin, Berry?« fragte Woodford. Ein Mann muß den Finger am Puls des Lebens halten. »Es geht ihr gut, danke, Sir.« Er richtete sich auf und fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar. »Die Sache mit Wilf Taylor - schrecklich, Sir.«
»Schrecklich, ja. Er war ein guter Kamerad.«
»Mr. Haldane wird das Archiv selbst zusperren, Sir. Er hat noch lange dort zu tun.«
»Hat er? - Na ja, wir haben alle gerade sehr viel zu tun.«
Berry senkte die Stimme. »Und der Chef schläft heute im Büro, Sir. Eine ziemliche Krise, wirklich. Er soll zum Minister gefahren sein. Man hat ihm ein Auto geschickt.«
»Gute Nacht, Berry.«
Befriedigt dachte Woodford: Sie hören einfach zu viel. Dann schlenderte er den Flur hinunter. Das Licht in Haldanes Zimmer stammte von einer verstellbaren Leselampe. Sie warf ein schmales Band grellen Lichtes auf die vor ihm liegenden Akte. »Immer noch an der Arbeit?«
Haldane schob die eine Akte in den Korb mit der Aufschrift >Erledigt< und nahm eine andere zur Hand. »Möchte wissen, wie es dem jungen Avery geht. Er wird schon weiterkommen, der Junge. Ich höre, daß der Chef noch nicht zurück ist. Muß eine lange Sitzung sein.«
Er ließ sich in dem Ledersessel nieder. Es war Haldanes eigener, den er aus seiner Wohnung hatte herüberbringen lassen, um darin sitzen zu können, wenn er seine Kreuzworträtsel löste. »Woraus schließen Sie das? Bei uns ist das kaum üblich«, sagte Haldane, ohne aufzublicken. »Wie ist Clarkie mit Taylors Frau weitergekommen?« fragte Woodford. »Wie hat sie es aufgenommen?« Haldane seufzte und legte die Akte beiseite. »Er hat's ihr beigebracht. Mehr weiß ich auch nicht«, sagte er.