»Ja.«
»Er wird außerdem einen amtlichen Totenschein des hiesigen Standesamtes benötigen. Es ist billiger, wenn man sich um diese Dinge selbst kümmert. Falls Geld bei Ihren Leuten eine Rolle spielt.« Avery sagte nichts.
»Sobald er eine günstige Flugverbindung gefunden hat, wird er sich um den Frachtbrief kümmern. Soviel ich weiß, wird Derartiges meist nachts transportiert. Die Fracht ist billiger und...«
»Einverstanden.«
»Gut. Barford wird sicherstellen, daß der Sarg luftdicht ist. Er kann aus Metall oder Holz sein. Außerdem wird er selbst eine Bestätigung ausstellen, daß der Sarg nichts als die Leiche enthält, und daß es dieselbe Leiche ist, auf die der Paß und der Totenschein Bezug nehmen. Ich erwähne dies für den Fall, daß Sie die Abwicklung in London übernehmen. Barford wird das alles sehr rasch erledigen. Ich werde mich darum kümmern. Er hat gute Verbindungen zu den Chartergesellschaften hier. Je eher er -«
»Ich verstehe.«
»Ich bin nicht sicher, daß Sie verstehen«, sagte Sutherland und hob die Augenbrauen, als ob Avery zudringlich wäre. »Was Peersen sagte, war sehr vernünftig. Ich möchte seine Geduld nicht auf die Probe stellen. Barford wird sich mit einer Londoner Firma in Verbindung setzen. Es ist doch London, oder nicht?«
»Ja, London.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß er eine gewisse Anzahlung von Ihnen erwartet. Ich schlage vor, daß Sie das Geld bei mir gegen Quittung hinterlegen. Was nun den persönlichen Besitz Ihres Bruders anbelangt: ich nehme an, daß, wer immer Sie schickte, er auch den Wunsch hatte, daß Sie diese Briefe an sich nehmen?« Er schob sie über den Tisch.
Avery murmelte: »Da war noch ein Film. Ein belichteter Film.« Die Briefe steckte er in die Tasche. Bedächtig zog Sutherland einen Durchschlag des Inventars heraus, das er auf der Polizei unterschrieben hatte, breitete es vor sich aus und ließ seinen Finger am linken Rand des Blattes herunterwandern. Er tat es voll Argwohn, als prüfe er die von einem anderen aufgestellte Rechnung.
»Hier ist kein Film verzeichnet. War auch eine Kamera da?«
»Nein.«
»Ah!«
Er brachte Avery zur Tür. »Übrigens sollten Sie Ihrem Auftraggeber bestellen, daß Malherbes Paß ungültig war. Das Auswärtige Amt hat ein Rundschreiben mit etwa zwanzig Nummern herausgegeben. Der Paß Ihres Bruders war darunter. Es muß da eine Panne passiert sein. Ich wollte es gerade nach London berichten, als das Fernschreiben des Auswärtigen Amtes kam, in dem Sie bevollmächtigt werden, Malherbes Sachen in Empfang zu nehmen.« Er lachte kurz auf. Er war sehr ärgerlich. »Das war Quatsch, natürlich. Von sich aus hätte das Amt niemals diese Vollmacht geschickt. Sie haben gar nicht das Recht dazu, es sei denn, Sie hätten einen entsprechenden Bescheid der Verwaltungsbehörde, und den konnten Sie unmöglich mitten in der Nacht besorgt haben. Haben Sie schon eine Unterkunft? Das >Regina< ist ganz passabel, es liegt gleich am Flughafen. Außerdem ist es außerhalb der Stadt. Ich nehme an, daß Sie selbst dorthin finden werden. Soviel ich weiß, bekommt ihr Leute großartige Diäten.«
Avery beeilte sich, das Gartentor zu erreichen, während sich seiner Erinnerung unauslöschlich das Bild von Sutherlands magerem, bitterem Gesicht einprägte, das sich ärgerlich von den schottischen Hügeln abhob. Die Holzhäuser an der Straße schienen in der Dunkelheit fast weiß, wie um einen Operationstisch versammelte Schatten.
Irgendwo unweit von Charing Cross befindet sich im Souterrain eines jener zwischen Villiers Street und der Themse liegenden erstaunlichen Häuser aus dem 18. Jahrhundert ein Club, an dessen Tür kein Name steht. Man erreicht ihn über eine gewundene Steintreppe. Das Geländer ist mit der gleichen grünen Farbe wie die Türen in der Blackfriars Road gestrichen und müßte eigentlich durch ein neues ersetzt werden. Die Mitglieder des Clubs sind eine seltsame Auslese. Einige sind beim Militär, andere haben den Beruf eines Lehrers, wieder andere sind Büromenschen. Manche stammen aus dem Niemandsland der Londoner Gesellschaft, das irgendwo zwischen dem Buchmacher und dem Gentleman liegt. Den Leuten ihrer Umgebung - und vielleicht sogar sich selbst - vermitteln sie den Eindruck eines gedankenlosen Mutes. Ihre Unterhaltung besteht aus Abkürzungen und Sätzen, die sich ein Mensch mit Sprachgefühl nur aus der Ferne anhören kann. Es ist ein Treffpunkt der alten Gesichter und der jungen Körper, der jungen Gesichter und der alten Körper. Hier haben sich die Spannungen des Krieges in Spannungen des Friedens verwandelt - ein Ort, an dem man gegen die Stille die Stimmen, gegen die Einsamkeit aber die Gläser erhebt. Es ist der Treffpunkt der Suchenden, die doch hier nichts anderes finden als ihresgleichen und die Wohltat geteilten Schmerzes. Hier haben die müden, wachsamen Augen keinen Horizont zu beobachten. Es ist noch immer ihr Schlachtfeld. Wenn es noch Liebe gibt, so finden sie sie hier unter sich, scheu wie Heranwachsende, und mit dem ständigen Gedanken an andere Menschen in ihrem Bewußtsein. Es fehlt aus der Kriegszeit niemand - bis auf die wichtigen Leute.
Es ist ein kleines Lokal, das von einem mageren, trockenen Mann geführt wird, der auf den Namen Major Dell hört. Er hat einen Schnurrbart und trägt eine Krawatte mit blauen Engeln auf schwarzem Grund. Nach dem ersten Schnaps auf seine Rechnung werden ihm die anderen von seinen Gästen bezahlt. Das Lokal heißt Alias-Club, und Woodford war Mitglied. Der Club hat abends geöffnet. Die Gäste kommen gegen sechs, sie lösen sich aus der vorbeidrängenden Menge - verstohlen, aber zielsicher, wie Besucher vom Land, die in ein anrüchiges Variete streben. Zuerst fallen einem alle jene Dinge auf, die in diesem Club fehlen: keine Silberpokale hinter der Bar, kein Gästebuch am Eingang und keine Mitgliedsliste, keine Emblemes, keine Titel. An den weißgekalkten Wänden hängen nur einige Fotos in den Wechselrahmen, wie die Bilder in Leclercs Büro. Die Gesichter darauf sind unscharf, einige offenbar von einem Paßbild vergrößert, das von vorne aufgenommen worden war, so daß der Vorschrift entsprechend beide Ohren sichtbar blieben. Es gibt auch die Bilder von Frauen, einige von ihnen sogar attraktiv, trotz ihrer hochsitzenden, viereckigen Schultern, die ebenso wie das lange Haar während des Krieges Mode waren. Die Männer tragen die verschiedensten Uniformen. Soldaten des Freien Frankreich und der Freien polnischen Armee zwischen ihren britischen Kameraden. Einige sind Piloten. Von den Engländern kann man noch immer viele, wenn auch alt und grau geworden, im Club an der Bar treffen.
Als Woodford hereinkam, drehte sich alles nach ihm um, und Major Dell bestellte erfreut das übliche Bier für ihn. Ein blühend aussehender Mann mittleren Alters erzählte gerade von einem Absprung, den er einmal über Belgien gemacht hatte, aber er schwieg, als er spürte, daß er die Aufmerksamkeit seines Publikums verloren hatte.
»Hallo, Woodie«, fragte jemand voll Verwunderung, »wie geht's Madame?«
»Geht noch«, sagte Woodford mit jovialem Lächeln. »Geht noch.« Er trank von seinem Bier. Jemand bot Zigaretten an.
Major Dell sagte: »Woodie macht es ganz raffiniert heute abend.«
»Ich such' jemanden. Aber es ist ziemlich geheim.«
»Wir wissen, wie's ist«, sagte der blühend Aussehende. Woodford sah von einem der an der Bar Stehenden zum anderen und fragte ruhig, aber mit einer Andeutung des Geheimnisvollen in der Stimme: »Was hat der Alte beim Barras gemacht?« Etwas verwirrtes Schweigen. Sie hatten nun schon eine Zeitlang getrunken.
»Er hielt natürlich die Front.«, sagte Major Dell unsicher, und sie lachten alle.
Woodford lachte mit ihnen. Er kostete die Atmosphäre des stillschweigenden Einverständnisses aus, durch das die halbvergessene Stimmung heimlicher Saufnächte in irgendwelchen englischen Offiziersmessen wieder heraufbeschworen wurde. »Und für was hielt er sich?« forschte er im gleichen vertraulichen Ton.
Diesmal riefen drei oder vier Stimmen gleichzeitig:
»Für schlechter als die Etappe.«
Sie waren nun lauter und glücklicher.