»Da gab's mal einen Mann namens Johnson«, fuhr Woodford schnell fort, »Jack Johnson. Ich versuche herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Er bildete Funker aus, war einer der Besten. Zuerst war er bei Haldane in Bovingdon, bis sie ihn hinauf nach Oxford versetzten.«
Voll freudiger Erregung rief der Blühende: »Jack Johnson! Sie meinen den Funker? Erst vor zwei Wochen hab' ich mir ein Autoradio bei Jack gekauft! Johnsons Radioquelle< am Clapham Broadway, das ist der Bursche. Schaut hier ab und zu mal vorbei. Radio-Amateur, kleiner Kerl, spricht so aus dem Mundwinkel, nicht?«
»Das ist er«, sagte ein anderer, »für uns von dem alten Verein läßt er zwanzig Prozent ab.«
»Mir hat er nicht«, sagte der Blühende. »Das ist Jack. Er lebt in Clapham.« Nun griffen es auch die anderen auf: das sei der Bursche und er habe dieses Geschäft in Clapham, ein Radioamateur, war das schon vor dem Krieg, sogar schon als Kind. Ja, am Broadway, sitzt dort schon jahrelang, muß ein Vermögen gemacht haben. Kommt gerne um die Weihnachtszeit in den Club. Woodford bestellte mit freudig gerötetem Gesicht eine Runde. In dem folgenden Wirbel nahm ihn Major Dell sachte am Arm und zog ihn ans andere Ende der Bar. »Woodie, ist das wahr mit dem alten Wilf Taylor? Hat er wirklich ins Gras gebissen?« Woodford nickte mit ernstem Gesicht. »Er war bei einem Einsatz. Wir meinen, daß sich jemand ihm gegenüber etwas hart benommen hat.« Major Dell zeigte sich sehr besorgt. »Ich hab's den Jungs noch nicht gesagt. Würde ihnen nur Kummer machen. Wer kümmert sich um seine Frau?«
»Der Chef hat das jetzt in die Hand genommen. Sieht gut für sie aus.«
»Gut«, sagte Major Dell, »gut.« Er nickte und klopfte Woodford voll Mitgefühl auf den Arm. »Wir werden es vor den Jungs nicht erwähnen, ja?«
»Natürlich.«
»Er hat ein- oder zweimal aufschreiben lassen. Nicht viel. Kam meist am Freitag einen heben.« Die feine Sprechweise des Majors verrutschte manchmal etwas, wie ein Patentschlips.
»Schick die Rechnung. Wir werden's begleichen.«
»Da gab's ein Kind, oder? War's nicht ein Mädchen?« Sie gingen zur Bar zurück. »Wie alt war sie doch?«
»Um die acht, vielleicht mehr.«
»Er sprach viel von ihr«, sagte der Major. Jemand schrie: »Hey, Bruce, wann werdet ihr Burschen endlich mal wieder den Jerries [Anm: Jerries: Spitzname für die Deutschen] auf die Finger klopfen? Sie hocken schon wieder überall. War mit meiner Frau diesen Sommer in Italien - alles voll von arroganten Deutschen.«
Woodford lächelte. »Früher als du glaubst. - Jetzt wollen wir mal diesen versuchen, hört zu.« Der Lärm ebbte ab. Woodford war eine Realität. Er machte diese Arbeit noch immer.
»Es gab da mal einen Spezialisten für unbewaffneten Nahkampf, ein Unteroffizier, Waliser. Er war ziemlich klein.«
»Klingt nach Sandy Low«, schlug der Blühende vor. »Genau, das ist Sandy!« Alle drehten sich bewundernd zu dem Blühenden. »Klar! Ein Waliser. Wir nannten ihn Randy Sandy.«
»Natürlich«, sagte Woodford zufrieden. »Na, und ging er nicht als Boxlehrer zu irgendeinem Internat?« Er betrachtete die anderen mit zusammengekniffenen Lidern. Er mußte ja viel verschweigen, das Ganze sehr vorsichtig durchspielen, weil es so streng geheim war.
»Genau, das ist er. Das ist Sandy!« Woodford schrieb sich den Namen auf, denn er war durch die Erfahrung vorsichtig geworden, daß er gerne Dinge vergaß, die er seinem Gedächtnis anvertraut hatte.
Als er sich zum Gehen anschickte, fragte der Major: »Und was macht Clarkie?«
»Arbeitet«, sagte Woodford. »Schuftet sich zu Tode, wie immer.«
»Die Jungs reden viel über ihn, weißt du. Warum kommt er nicht ab und zu einmal her? Sie würden sich irrsinnig freuen, es würde ihnen Auftrieb geben.«
»Sag mal«, sie waren schon an der Tür, »erinnerst du dich an einen Kerl namens Leiser? Fred Leiser, ein Pole.
Er war bei unserem Haufen. War bei dem Auftritt in Holland dabei.«
»Er lebt noch?«
»Ja.«
»Tut mit leid«, sagte der Major unbestimmt, »aber die Ausländer haben aufgehört, zu mir zu kommen. Weiß auch nicht, warum. Wir haben uns hier nie Gedanken darüber gemacht.«
Woodford schloß die Tür hinter sich und trat in die Londoner Nacht hinaus. Er sah sich verliebt um - die mütterliche Stadt, die seiner rauhen Obsorge überlassen war. Er schritt langsam aus - wie ein alt gewordener Turner auf seinem alten Sportplatz.
8. Kapitel
Avery, im Gegensatz dazu, ging schnell. Er hatte Angst. Keine Frucht ist so schrecklich und gleichzeitig so schwer zu beschreiben wie die, die einen Spion in fremdem Land befallen kann. Der Blick eines Taxifahrers, das Gedränge der Menschen, die Vielfalt der Uniformen - war das gerade ein Postbote oder war es ein Polizist? -, die unbekannten Sitten, die fremde Sprache, die fremdartigen Geräusche, kurz all das, was die neue Welt ausmachte, in die Avery plötzlich geraten war, erzeugte in ihm einen Zustand der fortwährenden Angst, die sich wie ein Nervenschmerz jetzt, da Avery allein und müde war, besonders bösartig bemerkbar machte. Innerhalb weniger Augenblicke schwankte seine Stimmung zwischen Panik und einer kriecherischen Unterwürfigkeit, die ihn auf unnatürliche Weise dankbar sein ließ für ein freundliches Wort oder auch nur einen wohlwollenden Blick. Er empfand eine entwürdigende Abhängigkeit von jenen, die er gerade zu hintergehen im Begriff war. Avery wünschte nichts sehnlicher, als von den gleichgültigen Gesichtern um ihn her die Absolution eines vertrauensvollen Lächelns zu erhalten. Es war ihm keine Hilfe, daß er sich immer wieder sagte: du fügst ihnen ja gar keinen Schaden zu, du bist doch ihr Beschützer. Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein Gejagter auf der Suche nach Ruhe und Nahrung.
Er fuhr mit dem Taxi ins Hotel und bat um ein Zimmer mit Bad. Man reichte ihm das Meldebuch zur Unterschrift. Er hatte bereits seinen Füller auf das Papier gesetzt, als er, nur zehn Zeilen höher, in mühsamer Schrift den Namen Malherbe verzeichnet sah. Der Namenszug war in der Mitte unterbrochen, als habe ihn sein Schreiber nicht recht buchstabieren können.
Sein Auge folgte der Eintragung in dieser Zeile: Adresse, London - Beruf, Major a. D. Bestimmungsort, London. Sein letztes Vergnügen, dachte Avery, waren also ein falscher Beruf und ein falscher Grad gewesen, aber sie hatten dem unbedeutenden Engländer Taylor noch einen Augenblick das Gefühl des Ruhmes verschafft. Warum nicht Oberst? Warum nicht Admiral? Warum hatte er sich nicht selbst geadelt und eine Adresse in der Park Lane verschafft? Selbst noch im Zustand des Träumens hatte Taylor seine Grenzen erkannt.
Der Portier sagte: »Der Diener wird Ihr Gepäck bringen.«
»Verzeihung«, sagte Avery - eine sinnlose Bemerkung des Bedauerns - und schrieb seinen Namen, wobei ihm der Portier eigenartig aufmerksam zusah. Er gab dem Diener eine Münze und hatte im selben Augenblick das Gefühl, daß er ihm zu viel gegeben habe. Er schloß die Tür seines Zimmers und blieb einige Zeit auf seinem Bett sitzen. Der Raum war durchdacht angelegt, aber er wirkte kalt und unpersönlich. An der Tür hing ein mehrsprachiger Hinweis, daß das Hotel für Wertgegenstände nur haften könne, wenn sie beim Portier hinterlegt seien, und neben dem Bett warnte ein zweiter Aushang vor den finanziellen Nachteilen, die es für den Gast bedeuten würde, wenn er das Frühstück nicht im Hause einnahm. Auf dem Schreibpult lag eine Reisezeitschrift und daneben eine schwarz gebundene Bibel. Es gab ein ungemein sauberes und sehr kleines Badezimmer und einen eingebauten Schrank, in dem ein Kleiderbügel hing. Er hatte vergessen, ein Buch mitzunehmen. Er hatte keineswegs erwartet, daß er gegen Langeweile zu kämpfen haben würde.
Ihm war kalt und er hatte Hunger. Er wollte baden. Er drehte das Wasser auf und begann sich auszuziehen.
Er war schon dabei, ins Wasser zu steigen, als er sich an Taylors Briefe in seiner Tasche erinnerte. Er zog seinen Bademantel an, setzte sich aufs Bett und begann, sie zu lesen. Einer war von der Bank und bezog sich auf eine Überziehung des Kontos, einer war von Taylors Mutter, einer von einem Freund - er begann >Lieber alter Wilf< - und die übrigen waren von einer Frau. Diese Briefe waren gefährlich. Sie stellten ein Sicherheitsrisiko dar. Derartige Briefe könnten ihn leicht kompromittieren. Er entschloß sich, sie alle zu verbrennen. Im Zimmer gab es noch ein Waschbecken. Er legte die Briefe hinein und hielt ein Streichholz an sie. Irgendwo hatte er gelesen, daß man das so machte. Da war auch noch eine Mitgliedskarte des Alias-Clubs, ausgestellt auf den Namen Taylor, und er verbrannte auch sie, zerdrückte dann die verkohlten Reste im Becken und drehte das Wasser auf. Es stieg schnell. Das Becken hatte keinen Stöpsel, sondern einen eingebauten Metallmechanismus, der mit einem Hebel zwischen den Hähnen bedient wurde. In diesem Mechanismus hatte sich die nasse Asche festgesetzt: Der Abfluß des Beckens war verstopft. Er sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er unter den beweglichen Metallverschluß in das Abflußrohr hätte stochern können. Er versuchte es mit seinem Füller, aber der war zu dick, also holte er seine Nagelfeile. Mehrmalige Versuche brachten die Asche schließlich in das Rohr. Das Wasser floß ab und ließ einen dunkelbraunen Fleck auf dem weißen Boden des Porzellanbeckens sichtbar werden. Er rieb den Fleck, zuerst mit der Hand, dann mit der Nagelbürste, aber er wollte nicht verschwinden. Die Glasur konnte sich nicht so verfärben. Es mußte irgendeine Substanz aus dem Papier sein, vielleicht war es Teer. Er ging ins Bad und sah sich vergebens nach einem Putzmittel um.