Выбрать главу

»Aber was sage ich Sarah?« Er sprach voll Verzweiflung.

»Sagen Sie ihr, man werde sie nicht mehr belästigen. Sagen Sie, es habe sich um ein Mißverständnis gehandelt - sagen Sie ihr, was Sie wollen. Essen Sie etwas Warmes und kommen Sie in einer Stunde zurück. Im Flugzeug wird man ja nicht satt. Dann werden Sie uns den Rest erzählen.« Leclerc lächelte das gleiche saubere, leere Lächeln, das er auf dem Foto inmitten der toten Flieger hatte. Als Avery die Tür erreicht hatte, hörte er sanft und liebevoll seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah zurück. Leclerc hob eine Hand vom Schreibtisch, und mit einer halbkreisförmigen Handbewegung wies er auf den Raum, in dem sie standen.

»Ich werde Ihnen etwas sagen, John. Während des Krieges waren wir in der Baker Street. Wir hatten dort einen Keller, den das Ministerium für den Notfall als Zentrale für die Einsatzleitung hergerichtet hatte. Adrian und ich haben viel Zeit dort unten verbracht. Sehr viel Zeit.« Er warf einen Blick auf Haldane. »Erinnerst du dich, wie die Öllampe wackelte, wenn oben die Bomben fielen? Wir mußten mit Situationen fertig werden, in denen wir nur ein Gerücht gehört hatten, John. Nicht mehr. Ein Hinweis mußte uns oft genügen, das Risiko auf uns zu nehmen, einen, oder wenn nötig zwei Mann loszuschicken, von denen manchmal keiner zurückkam.

Oder es war nichts dahinter. Gerüchte, eine Vermutung, eine Spur, die man verfolgte. Man vergißt leicht, woraus Abwehr besteht: aus Glück und Spekulation. Hier und da ein unerwarteter Glücksfall, da und dort ein Fang. Manchmal stolpert man über eine Sache wie diese: es kann ebensogut sehr viel dahinterstecken wie auch einfach nichts. Der Hinweis kann von einem Bauern in Flensburg stammen, ebensogut aber auch von einem Universitätsprofessor. Beides aber schließt eine Möglichkeit ein, die man nicht zu mißachten wagt. Wir erhalten den Befehl, einen Mann auszuwählen, ihn loszuschicken. So ist es immer gewesen. Viele sind nicht zurückgekommen. Sie wurden ausgeschickt, um Zweifel zu klären. Wir mußten sie schicken, weil wir auf eindeutiges Wissen angewiesen sind, verstehen Sie das nicht? - Jeder von uns hat Augenblicke wie diesen, John. Glauben Sie nicht, daß es immer leicht ist.« Er lächelte voller Erinnerungen. »Wir hatten oft Skrupel - wie Sie. Wir mußten sie überwinden. Wir nannten das den zweiten Schwur.« Er lehnte sich zwanglos gegen den Schreibtisch. »Den zweiten Schwur«, wiederholte er. »Also, John, wenn Sie warten wollen, bis die Bomben fallen, bis die Menschen in den Straßen sterben.« Er war plötzlich ernst, als enthülle er seinen Glauben. »Es ist viel schwerer im Frieden, ich weiß. Es erfordert Mut. Eine ganz andere Art Mut.«

Avery nickte. »Es tut mir leid«, sagte er. Haldane beobachtete ihn voll Abscheu. »Der Direktor meint damit«, sagte er scharf, »daß - falls Sie in der Organisation bleiben und die Arbeit machen wollen - Sie es tun sollen. Wenn Sie jedoch Ihre Emotionen pflegen wollen, dann gehen Sie bitte woandershin und tun Sie es dort in Frieden. Wir sind hier zu alt für Ihresgleichen.« Avery klang noch immer Sarahs Stimme im Ohr, und er konnte die Reihen kleiner Häuser im Regen vorbeiziehen sehen. Er versuchte, sich ein Leben ohne die Organisation vorzustellen. Er erkannte, daß es zu spät war, weil es schon immer zu spät gewesen war, weil er um des Wenigen willen, das sie ihm geben konnten, zu ihnen gekommen war, und sie nahmen ihm das Wenige, das er besaß. Wie ein zweifelnder Priester hatte er das Gefühl gehabt, daß - was auch immer sein zaghaftes Herz bergen mochte - es sicher an seinem Zufluchtsort aufgehoben sei: jetzt war es verschwunden. Er sah Leclerc und dann Haldane an. Sie waren seine Kollegen. Alle drei würden sie, Gefangene des Schweigens, Seite an Seite arbeiten, die harte Scholle in jeder Jahreszeit aufbrechen; sie waren einander fremd und sie brauchten einander in einer Wildnis preisgegebenen Glaubens. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« fragte Haldane.

Avery murmelte: »Wie, bitte?«

»Sie waren nicht im Krieg, John«, sagte Leclerc freundlich. »Sie verstehen nicht, wie diese Dinge sich der Menschen bemächtigen. Sie wissen nicht wirklich, was Pflicht ist.«

»Ich weiß«, sagte Avery. »Es tut mir leid. Ich möchte mir gerne das Auto für eine Stunde ausborgen. Sarah etwas schicken, wenn das geht.«

»Natürlich.«

Ihm fiel ein, daß er Anthonys Geschenk vergessen hatte. »Es tut mir leid«, sagte er nochmals. »Übrigens« - Leclerc öffnete eine Schublade des Schreibtisches und nahm einen Umschlag heraus. Er reichte ihn Avery mit einer nachsichtigen Gebärde.

»Das ist Ihr Ausweis, ein Sonderausweis vom Ministerium. Damit Sie sich legitimieren können. Er lautet auf Ihren eigenen Namen. Sie werden ihn in den nächsten Wochen vielleicht brauchen.«

»Danke.«

»Nehmen Sie ihn heraus.«

Es war ein Stück dicken, in Zellophan eingeschlagenen grünen Kartons, dessen Farbe verwaschen schien und dem unteren Rand zu dunkler wurde. Sein Name war mit einer elektrischen Schreibmaschine in Großbuchstaben quer darüber geschrieben: Mr. John Avery. Darunter stand, daß der Besitzer berechtigt sei, im Auftrag des Ministeriums Erhebungen durchzuführen. Die Unterschrift war mit roter Tinte gemacht worden.

»Danke.«

»Damit sind Sie sicher«, sagte Leclerc. »Der Minister hat ihn unterschrieben. Mit roter Tinte, sehen Sie. Das ist Tradition.«

Avery ging in sein Zimmer zurück. Es gab Zeiten, da stand er seinem Spiegelbild wie einem leeren Tal gegenüber, und diese Vision trieb ihn dann vorwärts, in Erfahrungen hinein, wie Verzweiflung uns zum Selbstmord treiben kann. Manchmal war er wie ein Mensch auf der Flucht, der aber gegen den Feind stürmt in der verzweifelten Sehnsucht danach, die Hiebe auf seinem zerfallenden Körper zu fühlen, da nur sie allein ihm noch beweisen konnten, daß es ihn noch immer gab; in der verzweifelten Sehnsucht, seiner von trüber Gleichförmigkeit geprägten Existenz den Stempel eines echten Zieles aufzudrücken, voll verzweifelter Sehnsucht danach - wie Leclerc angedeutet hatte -, sein Gewissen zu opfern, um Gott zu finden.

Dritter Teil

LEISERS EINSATZ

»Sich wie ein Schwimmer springend in die Reinheit werfen, frohgemut fort von einer Welt, die alt und kalt und müde.«

RUPERT BROOKE, »1914«

 

10. Kapitel

 

VORSPIEL

Der Humber setzte Haldane an der Garage ab. »Sie brauchen nicht zu warten. Sie müssen Mr. Leclerc ins Ministerium bringen.« Er ging mit zögernden Schritten über die Betonfläche, vorbei an den gelben Zapfsäulen und den im Wind rasselnden Reklameschildern. Es war Abend, und es würde wohl regnen. Die Garage war klein, aber sehr gepflegt. Am einen Ende ein Ausstellungsraum, am anderen die Werkstatt, dazwischen ein turmartiges Gebäude, in dem jemand wohnte. Das Ganze war übersichtlich angelegt, man hatte viel schwedisches Holz verwendet. Am Turm leuchtete ein herzförmiges Reklamezeichen, das fortlaufend seine Farbe wechselte. Irgendwo wimmerte eine Metalldrehbank. Haldane betrat das Büro. Niemand da. Es roch nach Gummi. Er läutete und begann gequält zu husten. Wenn er hustete, preßte er manchmal die Hände gegen die Brust, und sein Gesicht verriet dann die Ergebenheit eines Mannes, der mit dem Schmerz vertraut war. Neben einem Zettel, der wie eine private Annonce an einem Bretterzaun aussah und auf dem mit der Hand geschrieben stand: >St. Christopherus und alle deine Engel, bitte beschütze uns auf der Reise. F.L. <, hingen Kalender mit dürftig bekleideten Mädchen an der Wand. Am Fenster hing ein Käfig, in dem ein aufgeregter Wellensittich herumflatterte. Die ersten Regentropfen platschten träge gegen die Scheibe. Dann kam ein ungefähr achtzehnjähriger Junge mit ölverschmierten Händen herein. Er trug einen Overall, auf dessen Brusttasche ein rotes Herz und darüber eine Krone angenäht waren.