»Guten Abend«, sagte Haldane. »Bitte verzeihen Sie.
Ich suche einen alten Bekannten, einen Freund. Wir haben uns früher gut gekannt. Ein Mr. Leiser. Fred Leiser. Ich wollte fragen, ob Sie eine Ahnung haben.«
»Ich hole ihn«, sagte der Junge und verschwand. Haldane wartete geduldig, während er die Kalender betrachtete und sich überlegte, ob sie wohl von Leiser selbst oder von dem Jungen dort aufgehängt worden waren. Als sich die Tür wieder öffnete, stand Leiser vor ihm. Haldane erkannte ihn von der Fotografie her. Er hatte sich tatsächlich kaum verändert. Die zwanzig Jahre hatten sich nicht mit kräftigen Linien, sondern nur an den Augen mit einem feinen Netz von Fältchen in seinem Gesicht eingezeichnet. Und in Spuren an den Mundwinkeln, die Selbstdisziplin verrieten. Das indirekte Licht warf keine Schatten auf sein blasses Gesicht, das auf den ersten Blick nichts anderes als Einsamkeit verriet.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Leiser. Es sah beinahe so aus, als stehe er stramm. »'n Tag. Erkennen sie mich nicht mehr?« Leiser betrachtete ihn mit dem ausdruckslosen und doch vorsichtigen Gesicht eines Mannes, der aufgefordert worden ist, einen Preis vorzuschlagen. »Sind Sie sicher, daß Sie mich meinen?«
»Ja.«
»Muß lange her sein«, sagte er schließlich. »Es passiert nicht oft, daß ich ein Gesicht vergesse.«
»Zwanzig Jahre.« Haldane hustete um Vergebung heischend.
»Dann war's also im Krieg, ja?« Er war ein kleiner, sehr aufrechter Mann. Äußerlich war er Leclerc nicht unähnlich. Er hätte Kellner sein können. Seine Hemdärmel waren einmal umgeschlagen, seine Arme dicht behaart. Er trug ein weißes, teures Hemd. Auf der Brusttasche war ein Monogramm. Er sah wie ein Mann aus, der an seiner Kleidung nicht spart. Er trug einen goldenen Ring und eine Uhr mit goldenem Armband. Offenbar legte er großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Haldane roch sein Rasierwasser. Er hatte dichtes braunes Haar, dessen Ansatz in gerader Linie über die Stirn lief. Es war zurückgekämmt und an den Schläfen leicht gewellt. Er trug keinen Scheitel und wirkte ausgesprochen slawisch. Obwohl er sich sehr gerade hielt, war etwas Schwankendes an ihm, eine gewisse Lockerheit der Schultern und Hüften, die die Vermutung nahelegte, daß er mit der See vertraut war. Es war dieser Punkt, an dem jede Ähnlichkeit mit Leclerc abrupt aufhörte. Abgesehen von seinem äußeren Erscheinungsbild wirkte er wie ein sehr geschickter Mann, der sich bei Reparaturen im eigenen Haus, oder wenn es galt, das Auto an einem kalten Wintermorgen in Gang zu bringen, durchaus zu helfen wußte. Außerdem sah er wie ein harmloser Mensch aus, wenn auch wie einer, der viel herumgekommen war. Er trug einen Schottenschlips.
»Sie erinnern sich sicher an mich«, bat Haldane. Leiser starrte auf die mageren Wangen mit den hektischen roten Flecken, den schlaffen, unruhigen Körper und die sich sanft bewegenden Hände - und da huschte über sein Gesicht der Schatten eines schmerzlichen Erkennens, als habe er die Überreste eines Freundes zu identifizieren. »Sie sind doch nicht etwa Captain Hawkins, oder?«
»Doch.«
»Guter Gott«, sagte Leiser, ohne sich zu bewegen. »Ihr also habt euch nach mir erkundigt!«
»Wir suchen einen Mann mit Ihrer Erfahrung, jemanden wie Sie.«
»Wozu brauchen Sie ihn, Sir?«
Er hatte noch immer keine Bewegung gemacht. Man konnte nur sehr schwer sagen, was er dachte. Sein Blick war auf Haldane gerichtet. »Um einen Auftrag auszuführen. Nur einen Auftrag.« Leiser lächelte, als falle ihm plötzlich wieder alles ein. Er wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster. »Da drüben?« Er meinte irgendwo jenseits des draußen fallenden Regens. »Ja.«
»Wie ist es mit dem Zurückkommen?«
»Die normalen Vorschriften. Es ist dem Mann im Feld überlassen. Die Kriegsvorschriften.« Leiser kramte in seinen Taschen und brachte Zigaretten und Streichhölzer zum Vorschein. Der Wellensittich sang in seinem Käfig.
»Die Kriegsvorschriften. - Sie rauchen?« Er nahm sich eine Zigarette und zündete sie an, wobei er mit seinen Händen eine Muschel um die Flamme formte, als müsse er sie vor einem starken Sturm schützen. Das Streichholz ließ er auf den Boden fallen, wo es jemand anderer aufheben mochte. »Guter Gott«, wiederholte er, »zwanzig Jahre. Damals war ich ein Kind. Ein richtiges Kind.« Haldane sagte: »Ich bin sicher, daß Sie es nicht bereuen. Wollen wir etwas trinken gehen?« Er gab Leiser eine Visitenkarte. Noch druckfrisch stand darauf: Captain A. Hawkins. Darunter stand eine Telefonnummer.
Leiser las und zuckte mit den Schultern. »Mir ist's recht«, sagte er und holte seinen Mantel. Noch ein Lächeln, ungläubig diesmal, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit mit mir, Captain.«
»Vielleicht kennen Sie jemanden. Noch vom Krieg her, jemanden, der es übernehmen würde.«
»Ich kenne nicht viele Leute«, sagte Leiser. Er nahm seine Jacke vom Haken und einen dunkelblauen Nylonregenmantel. Er beeilte sich, Haldane die Tür zu öffnen, als lege er auf gute Form Wert. Sein Haar war wie Vogelschwingen sorgfältig übereinandergelegt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße war eine Kneipe. Um sie zu erreichen, mußten sie eine Fußgängerbrücke überqueren. Der dichte Verkehr der abendlichen Stoßzeit donnerte unter ihnen vorbei und die dicken, kalten Regentropfen schienen ihn begleiten zu wollen. Die Kneipe war im Tudorstil eingerichtet, mit neuen Pferdegeschirren an den Wänden und einer auf Hochglanz polierten Schiffsglocke. Leiser bestellte einen White Lady. Er trinke niemals was anderes, sagte er. »Einem Drink treu bleiben, Captain, das ist mein Rat. Dann werden Sie keine Schwierigkeiten haben. Zum Wohl.«
»Es müßte jemand sein, der die alten Tricks kennt«, bemerkte Haldane. Sie saßen in der Ecke neben dem Kaminfeuer. Sie hätten ebensogut über Geschäfte sprechen können. »Es ist ein sehr wichtiger Job. Man zahlt viel mehr als im Krieg.« Er lächelte düster. »Man zahlt überhaupt viel, heutzutage.«
»Na ja, Geld ist nicht alles, oder?« Eine steife kleine Phrase, die er von den Engländern gelernt hatte. »Man hat sich an Sie erinnert, Leute, deren Namen Sie längst vergessen haben, falls Sie sie überhaupt je kannten.« Ein nicht überzeugendes Lächeln der Erinnerung kräuselte seine dünnen Lippen: es mochte Jahre her sein, seit er zum letztenmal gelogen hatte. »Sie haben einen ziemlichen Eindruck hinterlassen, Fred. Es gab nicht viele, die so gut waren wie Sie. Selbst nach zwanzig Jahren.«
»Im alten Verein denkt man also an mich?« Er schien dankbar dafür zu sein, aber auch schüchtern, als stünde es ihm nicht zu, daß man sich seiner erinnerte. »Ich war ja nur ein Kind, damals«, wiederholte er. »Wen gibt's denn noch, wer ist noch dabei?« Haldane, der ihn beobachtete, antwortete: »Ich habe Sie gewarnt, Fred, wir haben noch immer dieselben Regeln. Nur was man wirklich wissen muß - wie damals.« Es klang streng.
»Guter Gott«, sagte Leiser. »Alles wie früher. Immer noch so groß, der Laden?«
»Größer.« Haldane ging zur Bar und holte noch einen White Lady. »Kümmern Sie sich viel um Politik?« Leiser hob seine sauber gewaschene Hand und ließ sie wieder fallen.
»Sie wissen, wie wir hier sind«, sagte er, »in England. Nicht wahr?« Der Ton, in dem er dies sagte, enthielt die leicht unverschämte Unterstellung, daß er Haldane ebenbürtig sei.
Haldane unterbrach ihn schnelclass="underline" »Ich meine, in einem weiten Sinn.« Er hustete trocken. »Schließlich haben diese Leute ja Ihr Land kassiert, oder nicht?« Leiser sagte nichts. »Was hielten Sie zum Beispiel von Kuba?«