»Mit wem? Kommt John mit?«
»Ja. John wird Sie führen. Betrachten Sie ihn bitte als Ihren Berater in allen kleineren Fragen. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht zögern, sich an einen von uns zu wenden, wenn es irgend etwas zu besprechen gibt, irgendeine Beschwerde oder Sorge.«
»In Ordnung.«
»Grundsätzlich muß ich Sie bitten, nicht allein auszugehen. Es wäre mir lieb, wenn John Sie begleitet, falls Sie einmal ins Kino, etwas einkaufen oder sonst etwas unternehmen wollen, wozu Ihnen Zeit bleibt. Ich fürchte aber, daß Sie wenig Gelegenheit zur Entspannung haben werden.«
»Das erwarte ich gar nicht«, sagte Leiser, »ich brauche es auch nicht.« Es schien so, als wollte er es gar nicht.
»Der Funk-Ausbilder wird Ihren Namen nicht wissen. Das ist eine durchaus übliche Vorsichtsmaßnahme. Bitte beachten Sie das. Die Putzfrau glaubt, daß wir an einer wissenschaftlichen Tagung teilnehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie in die Lage kommen, mit ihr sprechen zu müssen, aber wenn doch, denken Sie bitte daran. Wenn Sie sich nach Ihrer Tankstelle erkundigen möchten, wenden Sie sich bitte zuerst an mich. Sie sollten ohne meine Zustimmung keine Telefongespräche führen. Wir werden auch andere Besucher haben: Fotografen, Ärzte, Techniker. Alle diese Leute sind Hilfspersonal und nicht im Bilde. Die meisten glauben, Sie seien im Rahmen eines allgemeinen Schulungsprogrammes hier. Bitte denken Sie daran.«
»O. K.«, sagte Leiser. Haldane sah auf die Uhr. »Wir beginnen um zehn Uhr. Ein Auto wird uns an der Straßenecke abholen. Der Fahrer gehört nicht zu uns, also bitte keine Unterhaltung während der Fahrt.« Dann fragte er: »Haben Sie keinen anderen Anzug? Dieser ist nicht gerade das Passende für den Schießplatz.«
»Ich habe eine Sportjacke und Flanellhosen.«
»Jedenfalls sollten Sie sich weniger auffällig kleiden.« Während sie zum Umziehen hinaufgingen, sagte Leiser mit schiefem Lächeln zu Avery: »Das ist ein Kerl vom alten Schlag, was?«
»Aber gut«, entgegnete Avery. Leiser blieb auf der Treppe stehen. »Selbstverständlich! - Eine Frage: War das schon immer hier? Habt ihr das Haus schon für viele benützt?«
»Sie sind nicht der erste«, sagte Avery. »Na ja, ich weiß ja, daß Sie mir nicht viel erzählen dürfen. Ist die Einheit noch das, was sie war, hat sie noch überall ihre Leute, ist es noch derselbe Laden?«
Avery zögerte. »Ich glaube nicht, daß Sie einen großen Unterschied finden werden. Ich würde sagen, daß wir uns ein bißchen vergrößert haben.«
»Gibt's dabei noch mehr junge Leute?«
»Tut mir leid, Fred.«
Leiser legte im Weitergehen seine Hand auf Averys Rücken. Er benützte seine Hände überhaupt sehr oft. »Sie sind auch gut, John«, sagte er. »Machen Sie sich kein Kopfzerbrechen meinetwegen. Keine Bange, nicht wahr, John?«
Sie fuhren nach Abingdon: das Ministerium hatte entsprechende Vereinbarungen mit der dort stationierten Luftlandeeinheit getroffen. Der Ausbilder erwartete sie schon.
»Bestimmte Pistole gewöhnt, Sir?«
»Browning drei-acht-Automatik, bitte«, sagte Leiser wie ein Junge, der beim Lebensmittelhändler Gemüse verlangt.
»Die heißt bei uns jetzt die Neun-Millimeter. Sie werden eine vom alten Typ gehabt haben.« Haldane hielt sich im Schießstand abseits, während Avery half, die mannsgroße Zielscheibe bis zur Zehnmetermarke heranzukurbeln und Klebestreifen über die alten Löcher zu heften.
»Sie nennen mich >Stab<«, sagte der Ausbilder und wandte sich an Avery: »Sie möchten's auch versuchen, Sir?«
Ehe Avery antworten konnte, hatte Haldane schnell gesagt: »Ja, es werden bitte beide schießen, >Stab<.« Zuerst kam Leiser. Avery stand neben Haldane, während Leiser - der ihnen den Rücken zukehrte - mit dem Gesicht zu der Sperrholzfigur eines deutschen Soldaten, im leeren Schießstand wartete. Das Ziel wirkte schwarz zwischen den grob verputzten weißen Mauern; über Bauch und Oberschenkel waren mit Kreide die rohen Umrisse eines Herzens gezeichnet, dessen innere Fläche mit übereinandergeklebten Papierstücken bedeckt war.
Sie sahen Leiser zu, wie er nun das Gewicht der Waffe in seiner Hand prüfte, sie schnell in Augenhöhe hob und dann wieder langsam sinken ließ, das leere Magazin an seinen Platz stieß, es herauszog und wieder zurückschnappen ließ. Er warf einen schnellen Blick über die Schulter zu Avery, während er sich mit der linken Hand eine Strähne seines braunen Haares aus der Stirn strich, weil sie ihn beim Zielen behinderte. Avery lächelte aufmunternd und sagte dann unterdrückt zu Haldane: »Bin mir über ihn noch immer nicht ganz klargeworden.«
»Wieso nicht? Er ist ein ganz gewöhnlicher Pole.«
»Woher kommt er? Aus welcher Gegend?«
»Sie kennen doch seine Akte: aus Danzig.«
»Natürlich.«
Der Ausbilder begann: »Zuerst versuchen wir's mal mit der leeren Waffe, Sir, beide Augen offen, Sir, sehr schön so, und schauen Sie geradeaus, beide Füße hübsch auseinander, danke, sehr schön so. Entspannen bitte, ganz ruhig und locker, das ist die Stellung zum Schießen und nicht zum Exerzieren, jawohl, Sir, das haben wir ja schon alles geübt. Jetzt die Waffe hoch, Sir, in Position, aber ohne zu zielen. Recht so?« Der Ausbilder holte Luft, öffnete eine Holzschachtel und entnahm ihr vier Magazine. »Eins in die Waffe, eins in die linke Hand«, sagte er und gab die beiden anderen zu Avery hinüber, der fasziniert verfolgte, wie Leiser mit geübter Bewegung ein volles Magazin in den Kolben der Automatik schob und seinen Daumen an den Sicherungshebel legte. »Jetzt die Waffe spannen, Sir, halten Sie sie dabei schräg vor sich hin. Jetzt in Schußrichtung bringen, nicht zielen, schießen Sie ein Magazin leer, Sir, immer zwei Schüsse hintereinander. Wir erinnern uns, daß wir die Automatik nicht als wissenschaftliche Waffe betrachten, Sir, sondern mehr als eine Waffe für den Einsatz im Nahkampf. Jetzt langsam, ganz langsam.«
Ehe er den Satz beenden konnte, hallte der Schießstand von Leisers Schüssen wider. Leiser hielt sich sehr gerade und schoß schnell, das zweite Magazin vorschriftsmäßig wie eine Handgranate in der linken Hand: ein stummer Mann, der eine Möglichkeit gefunden hatte, seinem Ärger Ausdruck zu geben. Avery konnte mit wachsender Erregung den Zorn spüren, der in diesem Schießen lag. Erst zwei und noch einmal zwei Schüsse, dann drei, und schließlich eine ganze Ladung, während sich leichter Dunst um ihn ausbreitete und der Holzsoldat schwankte und Averys Nase sich mit dem süßlichen Geruch verbrannten Pulvers füllte.
»Elf von dreizehn im Ziel«, sagte der Ausbilder. »Sehr gut, wirklich sehr gut. Nächstes Mal bitte bei jeweils zwei Schüssen hintereinander zu bleiben. Und warten Sie, bis ich den Befehl zum Feuern gebe.« Zu Avery: »Möchten Sie's nicht auch versuchen, Sir?« Leiser war zur Scheibe gegangen und befühlte die Einschußlöcher mit seinen schlanken Fingern. Die plötzliche Stille war drückend. Er schien in tiefes Grübeln versunken, während er seine Hände über das Sperrholz gleiten ließ und mit einem Finger gedankenvoll über den Umriß des deutschen Helmes strich, bis der Ausbilder sagte: »Los jetzt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Avery stand auf der Matte und wog die Waffe in seiner Hand. Der Ausbilder half ihm, das Magazin einzuführen das andere hielt er in der nervös verkrampften linken Hand. Haldane und Leiser sahen ihm zu. Avery feuerte. Der Lärm der schweren Waffe dröhnte dumpf in seinen Ohren und er merkte, wie sein junges Herz sich zusammenzog, als er die Silhouette durch seine Schüsse in träge Schwankungen versetzt sah. »Gut gemacht, John, gut gemacht«, rief Leiser. »Sehr gut«, sagte der Ausbilder automatisch. »Sehr gut fürs erste Mal, Sir.« Er wandte sich an Leiser: »Würden Sie bitte hier nicht so herumbrüllen?« Er erkannte Ausländer auf den ersten Blick. »Wieviel?« fragte Avery gierig, als er und der Unteroffizier an der Scheibe zusammentrafen und die schwärzlichen Löcher betasteten, die dünn über Brust und Bauch der Figur verstreut waren. »Wieviel, Stab?«