Lansen zuckte mit den Schultern, griff in die Tasche seines Regenmantels und zog - zum Entsetzen Taylors - die Zinkkapsel eines 35-mm-Filmes heraus, die er ihm über den Tisch reichte.
»Wozu das Ganze?« fragte Lansen abermals. »Worauf hatten sie es bloß in diesem Gebiet abgesehen? Ich ging unter die Wolken, flog die ganze Gegend ab. Ich habe keine Atombomben gesehen.«
»Irgend etwas Wichtiges, was anderes hat man mir nicht gesagt. Irgendwas Großes. Es mußte gemacht werden, verstehen Sie das nicht? Man kann über ein solches Gebiet keine illegalen Flüge machen.« Es waren die Worte von jemand anderem, die Taylor einfach wiederholte. »Es mußte eine Fluggesellschaft sein, eine eingetragene Fluggesellschaft. Oder nichts. Es gab keine andere Möglichkeit.«
»Hören Sie: Ich wurde unter Bewachung genommen, sobald ich dort war - zwei MIGs. Möchte wissen, woher die kamen. Sobald ich sie sah, ging ich in die Wolken. Sie folgten mir. Ich ging auf Sprechfunk und fragte nach der Position. Als wir aus den Wolken wieder herauskamen, waren sie immer noch da. Ich dachte, sie würden mich zur Landung zwingen. Ich versuchte, die Kamera abzuwerfen, aber sie klemmte. Die Kinder klebten alle an den Fenstern und winkten den MIGs. Sie flogen eine Zeitlang neben mir her, dann drehten sie ab. Sie kamen nahe, ganz nahe. Es war verdammt gefährlich für die Kinder.« Er hatte sein Bier nicht angerührt. »Was, zum Teufel, wollten sie?« fragte er. »Warum haben sie mich nicht runtergeholt?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt: ich kann nichts dafür. Für so was bin ich nicht zuständig. Aber worauf auch immer man in London aus war: sie wissen, was sie tun.« Er schien sich selbst überzeugen zu wollen; er brauchte den Glauben an London. »Dort vergeudet man seine Zeit nicht. Oder Ihre, mein Freund. Die wissen schon, was sie wollen.« Er sah finster drein, um die Stärke seiner Überzeugung auszudrücken, aber Lansen hatte ihm vielleicht nicht zugehört. »Man hält auch nichts von unnötigen Risiken«, sagte Taylor. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Lansen. Wir müssen alle unser Scherflein beitragen. Risiken auf uns nehmen. Wir tun das alle. Ich habe es im Krieg getan, wissen Sie. Sie sind zu jung, um sich an den Krieg zu erinnern. Es ist die gleiche Arbeit: Wir kämpfen für dieselbe Sache.« Plötzlich fielen ihm die zwei Fragen ein. »Welche Höhe flogen Sie, als Sie die Aufnahmen machten?«
»Verschieden. Über Kalkstadt waren wir bis auf 2000 Meter herunter.«
»Kalkstadt interessierte sie am meisten«, sagte Taylor voll Anerkennung. »Das ist erstklassige Arbeit, Lansen, erstklassig. Mit welcher Geschwindigkeit?«
»Dreihundert. dreihundertsechzig. So ungefähr. Es gab nichts zu sehen, sage ich Ihnen, nichts.« Lansen zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt ist Schluß damit«, wiederholte er. »Wie wichtig das Ziel auch immer sein mag.« Er stand auf. Taylor erhob sich gleichfalls.
Er steckte die rechte Hand in die Außentasche seines Mantels. Plötzlich wurde seine Kehle trocken: das Geld - wo war das Geld?
»Sehen Sie in der anderen Tasche nach«, schlug Lansen vor.
Taylor reichte ihm den Umschlag. »Wird es deswegen Schwierigkeiten geben? Wegen der MIGs, meine ich?«
Lansen zuckte die Schultern. »Ich bezweifle es, es ist mir noch nie passiert. Dieses Mal werden sie mir schon glauben. Sie werden glauben, es sei das Wetter gewesen. Ich kam ungefähr auf halber Strecke vom Kurs ab. Es könnte auch die Schuld des Bodendienstes gewesen sein. Beim Übergang von einer Leitstelle zur anderen.«
»Was ist mit dem Navigator? Was ist mit der übrigen Besatzung? Was denken die?«
»Das ist meine Sache«, sagte Lansen mürrisch. »Sie können in London bestellen, daß es das letzte Mal war.«
Taylor sah ihn beunruhigt an. »Sie sind nur durcheinander«, sagte er. »Nach dieser Nervenanspannung.«
»Hol Sie der Teufel«, sagte Lansen leise, »hol Sie der Teufel, verdammt noch mal.« Er drehte sich um, legte eine Münze auf die Theke und ging aus der Bar, wobei er den langen gelben Briefumschlag mit dem Geld achtlos in die Tasche seines Regenmantels stopfte. Taylor folgte ihm kurz darauf. Der Barkeeper sah ihm zu, wie er durch die Tür ging und die Treppe hinunter verschwand. Ein äußerst widerlicher Mann, dachte er. Aber Engländer hatte er noch nie leiden können. Taylor wollte zuerst kein Taxi zum Hotel nehmen. Er könnte den Weg in zehn Minuten zurücklegen und etwas vom Tagegeld sparen. Die Bodenhosteß nickte ihm zu, als er auf seinem Weg zum Haupteingang an ihr vorbeiging. In der Empfangshalle war alles aus Teakholz, vom Boden strömte warme Luft herauf. Taylor trat ins Freie. Die Kälte schnitt wie ein Schwert durch seine Kleider; und ihre lähmende Wirkung breitete sich wie vordringendes Gift schnell über sein unbedecktes Gesicht aus, tastete sich zu seinem Nacken und zu den Schultern. Er änderte seinen Plan und sah sich hastig nach einem Taxi um. Er war betrunken. Plötzlich kam es ihm zu Bewußtsein: die frische Luft hatte ihn betrunken gemacht. Der Taxistandplatz war leer. Ein alter Citroen parkte fünfzig Meter weiter auf der Straße; der Motor lief. Er hat die Heizung an, der glückliche Kerl, dachte Taylor und eilte durch die Flügeltür zurück.
»Ich möchte ein Taxi«, sagte er zu dem Mädchen. »Wissen Sie, wo ich eines bekommen kann?« Er hoffte inbrünstig, daß er nüchtern aussah. Verrückt, so viel zu trinken. Er hätte diesen Drink von Lansen nicht annehmen sollen.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben die Kinder weggebracht«, sagte sie. »Sechs in jedem Wagen. Das war heute die letzte Maschine. Im Winter haben wir hier nicht viele Taxis.« Sie lächelte. »Es ist ein sehr kleiner Flughafen.«
»Was ist das dort oben auf der Straße, dieser alte Wagen? Kein Taxi, oder?« Seine Stimme war undeutlich.
Sie ging zur Tür und sah hinaus. Ihr Gang war behutsam schwingend, ungekünstelt und herausfordernd. »Ich sehe keinen Wagen«, sagte sie. Taylor sah an ihr vorbei. »Es stand ein alter Citroen dort. Beleuchtet. Muß weggefahren sein. Es wäre ja möglich gewesen.« Mein Gott, er war an ihm vorbeigefahren, ohne daß er es auch nur gehört hätte. »Die Taxis sind alle Volvos«, bemerkte das Mädchen. »Vielleicht wird eines zurückkommen, nachdem es die Kinder abgesetzt hat. Warum gehen Sie nicht auf einen Drink?«
»Die Bar ist zu«, antwortete Taylor bissig. »Der Barmann ist fort.«
»Wohnen Sie im Flughafen-Hotel?«
»Im >Regina<, ja. Ich bin in Eile, müssen Sie wissen.«
Es fiel ihm jetzt leichter. »Ich erwarte einen Anruf aus London.«
Sie betrachtete unschlüssig seinen Wettermantel aus grobem Gewebe.
»Sie könnten zu Fuß gehen«, schlug sie vor. »Zehn Minuten, immer die Straße hinunter. Das Gepäck kann Ihnen später nachgebracht werden.« Taylor sah mit der gewohnten weit ausholenden Handbewegung auf seine Uhr. »Gepäck ist schon dort. Kam heute morgen an.« Er hatte das zerknitterte, besorgte Gesicht eines Clowns, lächerlich und doch unendlich traurig; ein Gesicht, in dem die Augen blasser waren als ihre Umgebung. Von den Nasenflügeln führten tiefe Falten zum Mund hinunter. Vielleicht hatte sich Taylor deswegen einen unansehnlichen Schnurrbart wachsen lassen, der sein Gesicht wie die Kritzelei auf einer Fotografie vollends verunstaltete, ohne seine Unzulänglichkeit zu überdecken. Das Ergebnis war, daß Taylors Erscheinung Mißtrauen einflößte, nicht etwa weil er ein Halunke gewesen wäre, sondern allein deshalb, weil ihm jegliches Talent zur Verstellung fehlte. Außerdem hatte er sich gewisse, einem längst vergessenen Original abgeschaute Gesten zugelegt, wie zum Beispiel die verwirrende Gewohnheit, plötzlich den Rücken nach Soldatenart zu straffen, als habe er sich in einer unziemlichen Haltung überrascht. Dazu gehörte es auch, wenn er durch Bewegungen der Knie und Ellbogen vage andeutete, daß er den Umgang mit Pferden gewohnt war. Dennoch hatte sein Auftreten eine gewisse schmerzliche Würde, als kämpfe sein kleiner Körper gegen einen grausamen Sturm.