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»Sie sollten mit mir kommen, John«, flüsterte Leiser und legte seinen Arm um Averys Schulter. »Ich könnte Sie gut brauchen, da drüben.« Einen Augenblick zuckte Avery zurück. Aber dann legte auch er lachend seinen Arm um Leiser. Er fühlte den warmen, rauhen Stoff der Sportjacke unter seiner Handfläche. Der Ausbilder führte sie über den Exerzierplatz zu einem fensterlosen Ziegelbau, dessen eines Ende höher als das andere war und der an ein Theater erinnerte. Vor dem Eingang waren zwei sich überlappende Mauern, wie vor einem Pissoir. »Bewegliche Ziele«, sagte Haldane, »und Schießen bei Dunkelheit.«

Mittags spielten sie die Tonbänder ab. Die Bänder sollten sich wie ein Leitmotiv durch die ersten vierzehn Tage seiner Ausbildung ziehen. Sie waren von alten Grammophonplatten überspielt. Eine der Platten hatte einen Sprung, der wie das Ticken eines Metronoms immer wiederkehrte. Alle Platten gehörten zu einem schweren Gesellschaftsspiel, bei dem man sich Dinge merken mußte, die von den Sprechern nicht ausdrücklich gesagt, sondern ganz nebenbei und manchmal nur indirekt erwähnt wurden, oft vor einem die Aufmerksamkeit ablenkenden Hintergrund anderer Geräusche, - Dinge, die jetzt in der Unterhaltung bestritten, dann wieder korrigiert oder bestätigt wurden. Es waren drei Hauptstimmen, zwei männliche und eine weibliche. Andere unterbrachen. Es war die Frau, die ihnen auf die Nerven ging. Sie hatte eine antiseptische Stimme, die Stewardessen ganz von selbst anzunehmen scheinen. Auf dem ersten Bandstück las sie sehr schnell Listen herunter, zuerst eine Einkaufsliste: zwei Pfund von diesem und ein Kilo von jenem. Ohne abzusetzen, sprach sie dann plötzlich von farbigen Kegeln: so und so viele grün, so und so viele gelb. Dann waren es plötzlich Waffen: Revolver, Torpedos, Munition von diesem und jenem Kaliber. Dann eine Fabrik: Kapazität, Produktion, Ausschuß, Jahresumsatz und Monatsergebnisse. Auf dem nächsten Band sprach sie noch immer von diesen Dingen, aber fremde Stimmen unterbrachen sie und lenkten die Unterhaltung in unerwartete Bahnen. Beim Einkaufen begann sie mit der Frau des Lebensmittelhändlers einen Streit über bestimmte Waren, die ihren Ansprüchen nicht mehr genügten: Eier, die nicht mehr frisch waren, oder den empörend hohen Preis der Butter. Als der Geschäftsmann sich vermittelnd einzuschalten versuchte, beschuldigte sie ihn der Parteinahme. Das Gespräch ging über Punkte und Lebensmittelkarten, die Sonderzuteilung von Einmachzucker, einen Hinweis auf unbenannte Schätze unter der Ladentheke. Die Stimme des Händlers wurde ärgerlich und laut, brach aber ab, als sich das Kind einschaltete und von den Kegeln erzählte: »Mami, Mami, ich hab die drei grünen umgeschmissen, und wie ich sie aufstellen wollte, sind die sieben schwarzen umgefallen, Mami, wieso sind nur noch acht schwarze übrig?«

Die Szene wechselte in eine Kneipe. Wieder die Stimme der Frau. Sie rezitierte aus einer Waffenstatistik. Dann fielen andere Stimmen ein. Sie zweifelten einige der Zahlen an, nannten neue Ziele und wiederholten alte. Die Wirkung einer bestimmten Waffe, weder mit Namen genannt noch beschrieben, wurde zynisch in Frage gestellt und erregt verteidigt. Alle paar Minuten brüllte eine Stimme: »Halt!« Es wirkte wie die Stimme eines Schiedsrichters, und Haldane stoppte das Bandgerät und verwickelte Leiser in ein Gespräch über Fußball oder das Wetter, oder er las laut aus einer Zeitung vor, wobei er auf seiner Uhr kontrollierte, daß es genau fünf Minuten dauerte. (Die Uhr auf dem Kaminsims war kaputt.) Dann ließ er das Band weiterlaufen, und sie hörten eine von fern irgendwie vertraut klingende Stimme, die etwas schleppend wie die eines Pfarrers klang. Es war eine junge, bittende und unsichere Stimme, die der Averys nicht unähnlich war: »Hier sind jetzt die vier Fragen: Wenn man die schlechten Eier abzieht, wie viele hat sie in den vergangenen drei Wochen gekauft? Wieviele Kegel sind es insgesamt? Wie hoch war die gesamte Jahresproduktion von geprüften und geeichten Geschützrohren während der Jahre 1937 und 1938? Schließlich geben Sie im Telegrammstil jede beliebige Information wieder, aus der die Länge der Geschützrohre ermittelt werden könnte.« Leiser lief ins Arbeitszimmer hinüber, um die Antworten niederzuschreiben. Er schien das Spiel bereits zu kennen. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, sagte Avery anklagend: »Das waren Sie. Das am Ende ist Ihre Stimme gewesen.«

»War sie das?« fragte Haldane zurück. Es klang so, als habe er es gar nicht gewußt. Es gab auch andere Tonbänder, und sie trugen den Geruch des Todes; das Geräusch von Füßen, die über eine Holztreppe rannten, das einer zuschlagenden Tür, ein Klicken und die Stimme eines Mädchens, die in der Art, wie man Zitronen oder Sahne anbietet, fragte: »Das Schnappen eines Türschlosses? Das Spannen eines Hahnes?«

Leiser zögerte. »Eine Tür«, sagte er. »Es war nur die Tür.«

»Es war eine Pistole«, erwiderte Haldane scharf. »Eine Browning neun-Millimeter-Automatik. Das Magazin ist in die Kammer zurückgeschoben worden.« Am Nachmittag machten sie ihren ersten Spaziergang, Leiser und Avery. Sie gingen durch Port Meadow in die darunterliegende offene Landschaft hinaus. Haldane hatte sie weggeschickt. Sie gingen schnell, wobei ihre Füße durch das lange, harte Gras schleiften und der Wind Leisers Haar wild um seinen Kopf flattern ließ. Es war kalt, aber es regnete nicht. Es war ein klarer, sonnenloser Tag, und der Himmel über den flachen Feldern war dunkler als die Erde. »Sie kennen sich hier aus, nicht wahr?« fragte Leiser. »Sie sind hier in der Schule gewesen?«

»Als Student, ja.«

»Was haben Sie studiert?«

»Sprachen. Vor allem Deutsch.« Sie kletterten über einen Zauntritt und kamen auf einen engen Pfad zwischen zwei Hecken. »Verheiratet?« fragte Leiser. »Ja.«

»Kinder?«

»Eins.«

»Sagen sie mir eins, John: Als der Captain meine Karte herauszog - was geschah dann?«

»Wieso? Was soll geschehen sein?«

»Wie sieht das aus - ein Verzeichnis von so vielen Leuten. Es muß doch riesig sein, in einer Einheit wie dieser.«

»Es ist alphabetisch geordnet«, sagte Avery hilflos. »Einfach Karten. Warum?«

»Er sagte, sie hätten sich an mich erinnert: die alten Füchse. Wer hat sich eigentlich erinnert?«

»Alle haben sich erinnert. Es gibt ein Sonderverzeichnis der besten Leute. Praktisch jeder in der Organisation kennt Fred Leiser. Sogar die Neuen. Mit der Beurteilung, die Sie haben, kann man einfach nicht vergessen werden.« Er lächelte: »Sie gehören einfach dazu, wie ein Möbelstück, Fred.«

»Sagen Sie mir noch was, John. Ich möchte ja kein Quertreiber sein, verstehen Sie, aber sagen Sie mir...

wäre ich auch drinnen gut?«

»Drinnen?«

»Im Amt, mit euch zusammen. Ich nehme an, man muß dazu geboren sein, wie der Captain.«

»Ich fürchte, ja, Fred.«

»Was für Autos benützt ihr dort eigentlich?«

»Humbers.«

»Hawk oder Snipe?«

»Hawk.«

»Nur Vierzylinder? Der Snipe ist viel besser, müssen Sie wissen.«

»Ich spreche nur von normalen Dienstfahrten, nicht von Einsätzen«, sagte Avery. »Dafür haben wir jede Menge anderer Wagen.«

»Wie den Lieferwagen?«

»Genau.«

»Wie lange vorher, wie lange dauerte Ihre Schulung? Sie haben zum Beispiel gerade einen Einsatz hinter sich. Wann hat man Sie vorher.«

»Tut mir leid, Fred! Ich bin nicht befugt, nicht mal Ihnen.«

»Natürlich, John. Macht ja nichts.« Sie gingen an einer Kirche vorüber, die über der Straße auf einem Hügel lag, und kehrten am Rand eines frisch gepflügten Feldes entlang zurück in die sie willkommen heißende Umarmung des Mayfly-Hauses und des über die goldenen Rosenketten spielenden Gaslichtes. Sie waren müde, aber strahlend vergnügt. Am Abend sahen sie Filme, um das optische Erinnerungsvermögen zu schulen: sie fuhren in einem Auto über einen Truppenübungsplatz, in einem Zug an einem Flugfeld vorüber oder sie machten einen Spaziergang durch eine Stadt, und plötzlich merkten sie dann, daß sie ein Fahrzeug oder ein Gesicht, das mehrmals auftauchte, nicht wiedererkannt hatten. Manchmal wurden Bilder zusammenhangloser Gegenstände in schneller Folge auf die Leinwand projiziert, wobei sich im Hintergrund Stimmen unterhielten, die denen auf dem Tonband glichen, aber ihr Gespräch bezog sich nicht auf den Film, so daß der Schüler Augen und Gehör gleichzeitig anstrengen mußte, um das auszuwählen, was von beiden wertvoll schien.