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Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, nahm Leiser verstohlen die Zeitung mit sich, als enthielte sie irgendein Geheimnis, das man durch sorgfältige Prüfung enthüllen könnte.

Soweit Avery es beurteilen konnte, war Haldane von Leisers Fortschritten befriedigt. Im Verlauf der vielfältigen Übungen, zu denen Leiser jetzt angehalten wurde, hatten sie ihn eingehender beobachten können.

Mit der Fähigkeit der Schwachen, scharf zu beobachten, spürten sie seine Fehler auf und schätzten seine Stärke ein. Im gleichen Maß, in dem sie sein Vertrauen gewannen, begann er zunehmend eine entwaffnende Offenheit zu zeigen. Er liebte vertrauliche Gespräche. Er war ihr Geschöpf und gab ihnen alles - und sie bewahrten alles sorgfältig auf, wie es die Armen tun. Sie sahen, daß seine überschüssigen Kräfte durch die Organisation plötzlich ein Ziel bekommen hatten: Leiser hatte wie ein Mann mit ungewöhnlicher Geschlechtsgier in seiner neuen Tätigkeit das Objekt einer Hingabe gefunden, die er durch Entwicklung besonderer Fähigkeiten zu beweisen suchte. Er schien Gefallen daran zu finden, von ihnen Befehle zu erhalten, und er gab ihnen dafür seine Stärke als Unterpfand für seinen Gehorsam. Vielleicht war es ihnen sogar bewußt, daß Leiser in ihnen die Pole einer absoluten Autorität erblickte: der eine durch sein verbittertes Festhalten an Maßstäben, denen Leiser niemals gerecht werden konnte-, der andere durch seine jugendliche Zugänglichkeit und den Reiz und die Verläßlichkeit seines Wesens.

Leiser unterhielt sich gerne mit Avery. Er sprach über seine Freundinnen oder den Krieg. Er nahm an - und Avery fand das irritierend, aber weiter nichts -, daß ein Mann Mitte Dreißig - ob er nun verheiratet war oder nicht - natürlich ein intensives und abwechslungsreiches Liebesleben hatte. Später dann, am Abend, wenn die beiden ihre Mäntel angezogen hatten und zu der Kneipe am Ende der Straße hinuntergelaufen waren, pflegte er seine Ellbogen auf den kleinen Tisch zu stützen, sich vorzubeugen und von seinen Eroberungen bis in die kleinsten Einzelheiten zu berichten. Seine Hand ruhte dabei an seinem Kinn, und die schlanken Spitzen seiner Finger öffneten und schlossen sich in einer unbewußten Nachahmung der Bewegungen seiner Lippen. Er handelte nicht aus Eitelkeit, sondern aus Freundschaft. Diese Vertraulichkeiten und Geständnisse wahr oder erfunden - stellten die einfache Münze dar, mit der sie einander ihre Freundschaft vergalten. Betty wurde dabei von Leiser niemals erwähnt.

Allmählich lernte Avery das Gesicht Leisers mit einer Genauigkeit kennen, die nicht mehr von seinem Erinnerungsvermögen abhing. Er bemerkte, wie sich die Züge Leisers seinen Stimmungen entsprechend veränderten, wie sich Depression oder Müdigkeit am Ende eines langen Tages in der Spannung der Haut über seinen Backenknochen ausdrückten, durch die Augen und Mund an ihren Winkeln aufwärts gezogen wurden, so daß sein Ausdruck plötzlich noch slawischer wurde und an Vertrautheit verlor.

Leiser hatte von seinen Nachbarn oder von seinen Kunden gewisse Wendungen aufgeschnappt, die zwar völlig sinnlos waren, aber sein fremdes Ohr doch beeindruckt hatten. Er konnte zum Beispiel von »einem gewissen Maß der Befriedigung« sprechen, indem er eine unpersönliche Wendung gebrauchte, die ihm irgendwie würdiger schien. Er hatte sich auch eine Reihe von Klischees angeeignet. Dauernd wiederholte er Ausdrücke wie >nur keine Bange<, >mach keinen Wind<, >die Katze aus dem Sack lassen<, und es schien, als bemühe er sich damit um eine Lebensart, die er nur unvollständig verstand, in die er sich aber mit derartigen Zauberformeln hineinschwindeln wollte. Einige dieser Ausdrücke waren nicht mehr modern, wie Avery bemerkte.

Ein- oder zweimal hatte Avery den Verdacht, daß Haldane sein enges Verhältnis zu Leiser mißbilligte. Dann wieder schien es so, als hätte Haldane in Avery Gefühle entfaltet, über die er selbst keine Kontrolle mehr hatte. Eines Abends, am Anfang der zweiten Woche, während Leiser sich jener zeitraubenden Körperpflege widmete, die bei ihm fast jeder Feierabendbeschäftigung vorauszugehen pflegte, erkundigte sich Avery bei Haldane, ob er nicht auch selbst auszugehen wünsche.

»Wohin, glauben Sie, soll ich gehen? Auf eine Wallfahrt zum Schrein meiner Jugend?«

»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Freunde hier; Leute, die Sie von früher kennen.«

»Wenn ich sie hätte, wäre es unvorsichtig, sie zu besuchen. Ich bin unter einem anderen Namen hier.«

»Verzeihen Sie. Natürlich.«

Dann sagte Haldane mit strengem Lächeln: »Außerdem schließt nicht jeder von uns so leicht Freundschaft.«

Aufgebracht entgegnete Avery: »Sie haben mir selbst gesagt, ich solle immer mit ihm zusammen sein!«

»Sehr richtig, und das taten Sie auch. Es wäre unangebracht von mir, mich zu beklagen. Sie machen es bewunderungswürdig. «

»Was?«

»Befehle befolgen.«

In diesem Augenblick läutete es an der Haustür, und Avery ging hinunter, um zu öffnen. Im Licht der Straßenlampe konnte er auf der Straße die vertrauten Umrisse eines parkenden Lieferwagens der Organisation erkennen. Vor der Tür stand eine kleine, unscheinbare Gestalt in braunem Anzug und Mantel. Seine braunen Schuhspitzen glänzten. Es hätte der Gasableser sein können.

»Mein Name ist Jack Johnson«, sagte er unsicher. >»Johnson's Radioquelle<, das bin ich.«

»Kommen Sie herein«, sagte Avery. »Ich bin doch hier richtig, nicht wahr? Captain Hawkins und so?«

Er trug eine weiche Ledertasche, die er vorsichtig auf den Boden stellte, als enthielte sie seine ganze Habe. Gekonnt schüttelte er den Regen aus dem halb geschlossenen Schirm und stellte ihn dann in den Ständer unter seinem Mantel. »Ich heiße John.«

Johnson ergriff Averys Hand und drückte sie herzlich. »Freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Der Chef hat sehr viel von Ihnen erzählt. Also Sie sind das Wunderkind, wie ich höre.« Sie lachten.

Er faßte Avery mit einer vertraulichen Geste am Arm. »Sie verwenden Ihren eigenen Namen, nicht wahr?«

»Ja. Den Vornamen.«

»Und der Captain?«

»Hawkins.«

»Wie ist er, Mayfly, meine ich? Wie stellt er sich an?«

»Sehr gut. Einfach sehr gut.«

»Ich höre, er ist ein ziemlicher Schürzenjäger.« Während Johnson und Haldane im Wohnzimmer miteinander sprachen, ging Avery zu Leiser hinauf. »Wir können nicht weggehen, Fred. Jack ist gekommen.«

»Wer ist Jack?«

»Jack Johnson, der Funker.«

»Ich dachte, wir würden nicht vor nächster Woche damit anfangen.«

»Nur die Grundbegriffe in dieser Woche, damit Ihre Finger wieder locker werden. Kommen Sie herunter und sagen Sie guten Tag.«

Leiser trug einen dunklen Anzug und hielt eine Nagelfeile in der Hand. »Was ist also, gehen wir dann?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Fred, wir können heute abend nicht weg. Jack ist gekommen.« Leiser ging hinunter und schüttelte Johnson ohne Formalität kurz die Hand, als wären ihm Neuankömmlinge zuwider. Sie unterhielten sich steif eine Viertelstunde lang, bis Leiser unter dem Vorwand, daß er müde sei, mürrisch zu Bett ging. Johnson gab seinen ersten Bericht: »Er ist langsam«, sagte er. »Er hat freilich schon sehr lange nicht mehr gemorst. Aber ich traue mich nicht, ihn mit dem Gerät arbeiten zu lassen, ehe er nicht auf der Taste schneller geworden ist. Ich weiß, es ist mehr als zwanzig Jahre her, Sir, man kann ihm keinen Vorwurf machen. Aber langsam ist er, Sir, sehr sogar.« Er hatte die bedachtsame Sprechweise einer Kinderfrau, als verbrächte er viel Zeit mit Kindern. »Der Chef sagt, ich soll ihn die ganze Zeit steuern - auch beim Einsatz. Ich höre, wir fahren alle nach Deutschland rüber, Sir.«

»Ja.«

»Dann werden wir uns kennenlernen müssen, Mayfly und ich. Von dem Moment an, wo ich mit ihm auf dem Gerät zu arbeiten beginne, sollten wir viel zusammen sein, Sir. Das ist wie mit der Handschrift: Wir müssen uns beide an die Handschrift des anderen gewöhnen. Außerdem die Fahrpläne, die Zeiten, zu denen er sich melden kann, und derartiges. Die Tabelle der Zeichen für seine verschiedenen Frequenzen. Sicherheitszeichen. Das ist für vierzehn Tage ziemlich viel zu lernen.«