»Guter Film?« fragte Johnson. »Sehr nett.«
»Ich dachte, Sie wollten Spazierengehen«, sagte Haldane vorwurfsvoll und sah vom Kreuzworträtsel auf. »Ich hab' mir's anders überlegt.«
»Übrigens«, sagte Haldane, »was Leisers Pistole betrifft: er scheint die Drei-acht besonders zu schätzen.«
»Ja. Jetzt wird sie Neun-Millimeter genannt.«
»Nach seiner Rückkehr sollte er beginnen, sie bei sich zu tragen.
Natürlich ungeladen.« Er warf einen Blick auf Johnson. »Besonders wenn er mit dem Funkkurs beginnt. Gleich von Anfang an. Er muß sie die ganze Zeit über bei sich haben. Wir wollen ihn dazu bringen, daß er sich ohne sie verloren fühlt. Ich habe eine besorgen lassen. Sie werden sie in Ihrem Zimmer finden, Avery, mit verschiedenen Halftern. Vielleicht erklären Sie es ihm, bitte?«
»Wollen Sie es ihm nicht selbst sagen?«
»Das machen besser Sie. Sie kommen so gut mit ihm aus.«
Avery ging hinauf, um Sarah anzurufen. Sie war zu ihrer Mutter gezogen. Es war ein sehr steifes Gespräch.
Leiser wählte Bettys Nummer, aber er bekam keine Antwort.
Erleichtert ging er in einen billigen Juwelierladen neben dem Bahnhof, der auch am Samstagnachmittag geöffnet war, und kaufte einen goldenen Anhänger für ihr Armband: eine Kutsche mit Pferden. Er kostete elf Pfund - genau die Summe, die er als Tagegeld erhalten hatte. Er bat den Verkäufer, den Anhänger eingeschrieben an ihre Adresse in South Park zu schicken. Er legte einen Zettel mit folgenden Worten bei: »Bin in zwei Wochen zurück. Sei brav!« Nachdem er schon gedankenlos mit »F. Leiser« unterschrieben hatte, strich er es wieder durch und ersetzte es durch »Fred«.
Er ging ein bißchen spazieren, spielte mit dem Gedanken, ein Mädchen anzusprechen, und nahm sich schließlich in dem Hotel neben dem Bahnhof ein Zimmer. Er schlief wegen des lärmenden Verkehrs sehr schlecht. Am Morgen rief er nochmals bei Betty an, aber wieder hob niemand ab. Rasch legte er den Hörer auf die Gabel zurück; eigentlich hätte er länger warten müssen. Nach dem Frühstück ging er die Sonntagszeitungen kaufen und las in seinem Zimmer die Fußballberichte, bis es Mittag war. Nach dem Essen machte er den gewohnten Spaziergang. Er hatte nur eine unklare Vorstellung davon, durch welche Teile Londons er lief. Er ging den Fluß entlang bis Charing Cross und fand sich schließlich im strömenden Regen in einem leeren Park. Die asphaltierten Wege waren mit gelben Blättern übersät. Im Musikpavillon saß einsam ein alter Mann. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte einen Rucksack aus grünem Leinen, wie ein Gasmaskenbeutel, bei sich. Er schlief oder lauschte unhörbarer Musik. Leiser wartete bis zum Abend, um Avery nicht zu enttäuschen. Dann nahm er den letzten Zug heim nach Oxford. Avery kannte eine Kneipe hinter dem Balliol College, in der man an Sonntagen Tischbillard spielen konnte. Johnson spielte gerne eine Partie. Er trank Bier, Avery Whisky. Sie lachten viel; es war eine harte Woche gewesen. Johnson gewann immer. Er spielte methodisch nur die einfachen Löcher, mit den niedrigen Zahlen, während Avery über die Bande das Hunderterloch zu erreichen versuchte.
»Ich hätte nichts gegen ein bißchen Spaß, wie Fred ihn jetzt hat«, sagte Johnson kichernd. Er zielte, stieß zu, und eine weiße Kugel fiel pflichtbewußt in ihr Loch. »Diese Polen sind schrecklich brünstig. Decken alles, diese Polen. Besonders Fred, der ist ein richtiger Reißer. Man kann's an seinem Gang sehen.«
»Sind Sie auch so, Jack?«
»Wenn mir danach ist, schon! Hätte im Augenblick nichts dagegen, wenn ich ehrlich bin.« Sie spielten noch einige Löcher - jeder versunken in seine vom Alkohol beflügelten erotischen Phantasien. »Trotzdem stecke ich lieber in unserer Haut«, sagte Johnson zufrieden. »Sie nicht?«
»Na und ob.«
»Wissen Sie«, sagte Johnson, während er Kreide auf die Spitze seines Billardstockes rieb, »eigentlich sollte ich mit Ihnen gar nicht so sprechen. Sie waren im College und so. Sie gehören einer anderen Klasse an, John.«
Sie tranken einander zu und dachten dabei an Leiser. »Herrgott noch mal«, sagte Avery, »wir kämpfen doch im selben Krieg, oder nicht?«
»Ganz richtig.«
Johnson goß sich den Rest des Bieres ein. Er tat es sehr sorgfältig, aber ein wenig lief über und floß auf den Tisch.
»Auf Fred«, sagte Avery.
»Auf Fred. Hier und dort draußen. Wünsch ihm verdammt viel Glück!«
»Viel Glück, Fred!«
»Ich weiß nicht, wie er mit der B 2 fertigwerden wird«, murmelte Johnson. »Er hat noch sehr viel vor sich.«
»Auf Fred!«
»Fred. Er ist ein lieber Junge. Sagen Sie mal, kennen Sie diesen Kerl Woodford, der mich angeheuert hat?«
»Klar. Er kommt nächste Woche heraus.«
»Haben Sie mal Babs kennengelernt, seine Frau? Das war ein Mädchen, Gott, war das ein Mädchen! Ging mit jedem... Herrgott, die dürfte jetzt auch schon drüber hinaus sein, nehme ich an. Trotzdem, sie macht's immer noch gut, was?«
»Stimmt.« Sie tranken.
»Sie ging mal mit diesem Bürohengst Jimmy Gorton. - Was ist aus dem geworden?«
»Er ist in Hamburg. Geht ihm ausgezeichnet.«
Sie kamen noch vor Leiser nach Hause. Haldane war schon schlafen gegangen.
Es war nach Mitternacht, als Leiser in der Halle seinen nassen Kamelhaarmantel auszog und - da er ein ordentlicher Mensch war - auf einen Bügel hängte. Dann schlich er auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer und machte Licht. Sein Blick schweifte zärtlich über die schweren Möbelstücke, über die mit Schnitzereien und schweren Messingbeschlägen verzierte Kredenz, über den Schreibtisch und den Bibeltisch. Liebevoll betrachtete er wieder die hübschen Damen auf der Croquetwiese und die hübschen Männer auf dem Schlachtfeld, die hochmütigen Jungengesichter unter Strohhüten und die Mädchen in Cheltenham: eine lange Porträtgalerie des Unbehagens, in der auch der leiseste Hauch von Leidenschaft fehlte. Die auf dem Kaminaufsatz stehende Uhr war ein kleiner Pavillon aus blauem Marmor. Die goldenen Zeiger waren so reich verziert, so verschnörkelt und mit Blumen überladen, daß man nur schwer erkennen konnte, wohin die Spitzen deuteten. Sie hatten sich seit seiner Abreise nicht bewegt, vielleicht seit seiner Geburt nicht, und in gewisser Weise war das für eine alte Uhr eine große Leistung.
Leiser nahm seinen Koffer und stieg die Treppe hinauf. Haldane hustete, aber es war dunkel in seinem Zimmer. Leiser klopfte an Averys Tür. »Sind Sie da, John?«
Nach einem Augenblick hörte er, wie sich Avery im Bett aufsetzte. »War's nett, Fred?«
»Das will ich meinen!«
»Mit den Weibern alles klargegangen?«
»Wie gewünscht. Bis morgen, John.«
»Bis morgen, Fred. Fred...«
»Ja, John?«
»Jack und ich hatten eine ziemliche Sitzung. Nur Sie haben dabei noch gefehlt.«
»Das ist wahr, John.«
Langsam, zufrieden und müde ging er den Gang entlang, trat in sein Zimmer, zog seine Jacke aus, zündete eine Zigarette an und warf sich dankbar in den Lehnstuhl. Es war ein großer und sehr bequemer Sessel mit Ohrenbacken. Während er hineinsank, bemerkte er etwas: eine Tabelle zur Umrechnung von Buchstaben in Zahlen hing an der Wand und darunter, in der Mitte der Daunendecke, lag ein alter dunkelgrüner Leinenkoffer mit lederbezogenen Ecken. Er war aufgeklappt und darin befanden sich zwei graue Stahlkassetten. Leiser stand auf und starrte in wortlosem Erkennen auf sie hinunter, streckte seine Hand aus und berührte sie, vorsichtig, als könnten sie heiß sein. Er drehte an dem Abstimmungsknopf, hielt inne und las die Aufschrift an den Schaltern. Es hätte das gleiche Gerät sein können, das er in Holland gehabt hatte: Sender und Empfänger in der einen Kassette, Morsetaster und Kopfhörer in der anderen. Die Kristalle - ein Dutzend - waren in einem Beutel aus Fallschirmseide, der oben mit einer grünen Schnur zusammengezogen war. Er probierte die Morsetaste mit dem Finger, sie kam ihm viel kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte.