Nach Hydes Besuch erhielt Leiser nun täglich Unterricht über seine neue Identität. Er, Avery und Haldane entwarfen Schritt für Schritt eine bis ins kleinste Detail gehende Lebensgeschichte des Mannes Hartbeck. Sie führten ihn in seinen Berufsalltag ein, in seine Vorlieben und Freizeitgewohnheiten, sein Liebesleben und die Wahl seines Freundeskreises. Zusammen drangen sie bis in die entlegensten Ecken des mutmaßlichen Daseins dieses Mannes vor, verliehen ihm Fähigkeiten und Eigenschaften, die Leiser selbst kaum besaß.
Woodford brachte die neuesten Nachrichten aus London.
»Der Direktor hält sich großartig.« Die Art, in der Woodford das sagte, klang, als ringe Leclerc mit einer schweren Krankheit. »Heute in einer Woche fahren wir nach Lübeck. Jimmy Gorton hat sich um die deutschen Grenzer gekümmert. Er sagt, sie seien ziemlich zuverlässig. Wir haben die Stelle für den Übergang festgelegt, und ein Bauernhaus außerhalb der Stadt gemietet. Er hat ausgestreut, wir wären eine Gruppe von Wissenschaftlern, die Ruhe und frische Luft haben wollen.« Woodford warf Haldane einen Blick geheimen Einverständnisses zu. »Die Organisation arbeitet großartig. Wie 'ne Eins. Und welcher Geist dahintersteckt, Adrian! Jetzt fragt kein Mensch nach den Dienststunden. Oder nach dem Rang - Dennison, Sandford. wir sind einfach ein Team, Sie sollten mal sehen, wie sich Clarkie im Ministerium wegen der Pension für die Frau des armen Taylor schlägt.« Mit leiser Stimme setzte er hinzu: »Wie macht sich Mayfly?«
»Ganz gut. Er ist oben und morst.«
»Seine Nerven? Ist er noch mal so explodiert, oder was Ähnliches?«
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Haldane, als sei es ohnehin nicht zu erwarten, daß er Bescheid wisse.
»Entwickelt er Unternehmungslust? Manchmal wollen sie hin und wieder ein Mädchen.« Woodford hatte Zeichnungen von sowjetischen Raketen mitgebracht. Sie waren von Zeichnern des Ministeriums nach Fotografien aus der Auswertungsabteilung angefertigt worden und maßen 60 mal 90 Zentimenter. Man hatte sie säuberlich auf Karton aufgezogen. Einige waren als Geheimsache gestempelt. Besonders wichtige Merkmale waren mit kleinen Pfeilen bezeichnet, und die Beschriftung wirkte seltsam kindisch: Flosse, Spitze, Treibsatz, Ladung. Neben jeder Rakete stand eine lustige kleine Figur, die wie ein Pinguin mit Sturzhelm aussah, und daneben hieß es in Druckschrift: »Menschliche Durchschnittsgröße«. Woodford verteilte sie an den Wänden des Zimmers, als seien sie sein eigenes Werk. Avery und Haldane sahen ihm schweigend dabei zu.
»Er kann sie sich nach dem Essen ansehen«, sagte Haldane. »Lassen Sie sie bis dahin zusammen.«
»Ich habe auch einen Film mitgebracht, um ihm etwas Hintergrundinformationen zu geben: Startvorbereitungen, wie diese Dinge transportiert werden, ein bißchen über ihre Zerstörungskraft. Der Direktor meinte, es wäre nicht schlecht, wenn er weiß, was man damit anrichten kann. Es könnte ihn anfeuern.«
»Er braucht keine Anfeuerung«, sagte Avery. Dann fiel Woodford etwas ein. »Ach ja: Ihr kleiner Gladstone möchte mit Ihnen sprechen. Er sagte, es sei dringend - wußte nur nicht, wie er Sie erreichen kann. Ich sagte ihm, Sie würden anrufen, sobald Sie Zeit haben. Offenbar haben Sie ihn gebeten, irgendwas im Mayfly-Gebiet zu erledigen. Wegen der Industrie - oder waren es Manöver? Er sagte, er hätte die Antwort jetzt vorliegen. Er gehört zur besten Kategorie untergeordneter Dienstgrade, dieser Bursche.« Nach einem Blick zur Decke fragte er: »Wann kommt Fred herunter?«
Haldane sagte scharf: »Ich möchte nicht, daß Sie ihn sehen, Bruce.« Es kam nicht oft vor, daß Haldane einen Vornamen benützte. »Sie werden leider in der Stadt essen müssen. Verrechnen Sie es.«
»Warum denn das, um Himmels willen?«
»Sicherheit. Ich sehe keine Notwendigkeit, daß er mehr Leute von uns kennt, als unbedingt erforderlich ist. Die Zeichnungen sprechen für sich selbst. Nehme an, der Film nicht weniger.«
Woodford ging, zutiefst verletzt. Jetzt wußte Avery, daß Haldane Leisers Irrglauben aufrechterhalten wollte, die Organisation beschäftige keine Trottel. Für den letzten Tag des Kurses hatte Haldane eine ausgedehnte Übung vorgesehen, die von zehn Uhr vormittags bis acht Uhr abends dauern sollte. Sie verband optische Beobachtungen in der Stadt, heimliches Fotografieren und das Abhören von Tonbändern miteinander. Die von Leiser tagsüber gesammelten Informationen waren dann in einen Bericht zusammenzufassen, der verschlüsselt und am Abend per Funk an Johnson durchzugeben war. Am Morgen, während der Befehlsausgabe, herrschte Ausgelassenheit. Johnson machte eine scherzhafte Bemerkung darüber, daß man nicht aus Versehen die Polizei von Oxford fotografieren solle, worüber Leiser herzhaft lachte. Selbst Haldane erlaubte sich ein schiefes Lächeln. Es war Semesterschluß, die Jungen standen kurz vor der Heimfahrt.
Die Übung war ein großer Erfolg. Johnson war zufrieden, Avery begeistert, Leiser deutlich entzückt. Sie hatten zwei Sendungen gemacht, die fehlerlos ausgefallen waren, wie Johnson berichtete. Fred sei ruhig und sicher wie ein Felsen gewesen. Als sie um acht Uhr zum Abendessen zusammenkamen, trugen sie ihre besten Anzüge. Das Essen war besonders gut, und Haldane stellte den Rest seines Burgunders zur Verfügung, mit dem sie Trinksprüche ausbrachten. Sie sprachen von regelmäßigen Treffen, zu denen sie in künftigen Jahren zusammenkommen wollten. Leiser sah sehr schneidig aus in seinem dunkelblauen Anzug mit der silbernen Moirekrawatte. Johnson wurde ziemlich betrunken und ließ sich nicht davon abhalten, Leisers Funkgerät herunterzuholen, dem er dann mehrmals als der >Frau Hartbeck< zuprostete. Avery und Leiser saßen beisammen. Die Entfremdung der letzten Woche war gewichen.
Am nächsten Tag, einem Samstag, kehrte Avery mit Haldane nach London zurück. Leiser mußte mit Johnson bis zur Abreise der ganzen Gruppe nach Deutschland in Oxford zurückbleiben. Die Abreise sollte Montag erfolgen. Am Sonntag würde ein Lieferwagen der Luftwaffe kommen und Leisers Gerätekoffer abholen, der unabhängig von ihnen zu Gorton nach Hamburg, und zusammen mit Johnsons transportabler Funkstation zu dem Bauernhaus in der Nähe von Lübeck gebracht werden sollte, von dem aus das Unternehmen Mayfly seinen Ausgang nehmen würde. Ehe Avery das Haus verließ, machte er noch einen letzten Rundgang, teils aus Sentimentalität, teils aus Sorge um die Einrichtung, da er den Mietvertrag unterschrieben hatte.
Während der Reise nach London war Haldane sehr unruhig.
Offenbar wartete er noch immer auf irgendeine unvorhergesehene Krise Leisers.
15. Kapitel
Es war am selben Abend. Sarah war schon im Bett. Ihre Mutter hatte sie nach London gebracht. »Wann immer du mich brauchst«, sagte er, »komme ich zu dir, wo du auch bist.«
»Du meinst, wenn ich im Sterben liege.« Analysierend fügte sie hinzu: »Das gleiche tue ich für dich, John.
Darf ich meine Frage jetzt wiederholen?«
»Montag. Es fährt eine Gruppe von uns.« Wie Kinder spielten sie getrennt, jeder für sich.
»Ich welchen Teil Deutschlands?«
»Einfach Deutschland, Westdeutschland. Zu einer Konferenz.«
»Noch mehr Leichen?«
»Himmelherrgott, Sarah, glaubst du, ich will dir etwas verheimlichen?«
»Ja, John, das glaube ich«, sagte sie einfach. »Ich glaube, dir würde an dem Job gar nichts mehr liegen, wenn du mir davon erzählen dürftest. Es gibt dir eine Freiheit, von der ich ausgeschlossen bin.«
»Ich kann dir nur sagen, daß es eine große Sache ist... ein große Operation. Mit Agenten. Ich habe sie geschult.«
»Wer ist der Leiter?«
»Haldane.«
»Ist das nicht derselbe, der dir Intimitäten über seine Frau erzählt? Ich finde ihn einfach widerlich.«
»Nein, das ist Woodford. Haldane ist ganz anders. Er ist seltsam. Pedantisch, zurückhaltend. Sehr fähig.«