»Aber sie sind alle fähig, nicht wahr? Auch Woodford ist fähig.«
Ihre Mutter brachte den Tee herein. »Wann kannst du aufstehen?« fragte er. »Wahrscheinlich Montag. Hängt vom Doktor ab.«
»Sie wird Ruhe brauchen«, sagte ihre Mutter und ging hinaus.
»Wenn du daran glaubst, tu es«, sagte Sarah. »Aber mach nicht...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf, jetzt das kleine Mädchen.
»Du bist eifersüchtig. Du bist eifersüchtig auf meine Arbeit und die Schweigepflicht. Du willst nicht, daß ich an meine Arbeit glaube!«
»Mach weiter. Glaube an sie, wenn du kannst.« Eine Zeitlang sahen sie einander nicht an. »Wenn es nicht wegen Anthony wäre, würde ich dich wirklich verlassen«, sagte Sarah schließlich. »Weshalb?« fragte Avery hoffnungslos. Dann bemerkte er die günstige Gelegenheit: »Laß dich durch Anthony nicht abhalten.«
»Du redest nie mit mir: genausowenig wie du mit Anthony redest. Er kennt dich kaum.«
»Worüber kann man schon reden?«
»Ach Gott!«
»Du weißt, daß ich nicht über meine Arbeit sprechen kann. Ich erzähle dir sowieso mehr, als ich dürfte: das ist der Grund, warum du immer über die Organisation spottest, nicht wahr? Du kannst sie nicht verstehen und willst es auch nicht. Es paßt dir nicht, daß sie geheim ist, aber du verachtest mich, wenn ich gegen diese Regel verstoße.«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Ich tue es auch nicht«, sagte Avery. »Ich habe mich entschieden.«
»Aber vergiß diesmal wenigstens das Geschenk für Anthony nicht.«
»Ich habe ihm doch diesen Milchwagen gekauft.« Wieder schwiegen sie.
»Du solltest Leclerc kennenlernen«, sagte Avery. »Ich glaube, du solltest mit ihm sprechen. Er schlägt es immer wieder vor. Ein Abendessen. er würde dich vielleicht überzeugen.«
»Wovon?«
Sie hatte entdeckt, daß vom Saum ihres Bettjäckchens ein Faden herunterhing. Seufzend nahm sie aus der Lade des Nachttisches eine Nagelschere und schnitt ihn ab.
»Du hättest ihn vernähen sollen. So machst du nur deine Kleider kaputt«, sagte Avery. »Wie sind sie?« fragte sie, »diese Agenten. Warum tun sie es?«
»Zum Teil aus Loyalität, zum Teil für Geld, nehme ich an.«
»Du willst sagen, du bestichst sie?«
»Halt den Mund!«
»Sind es Engländer?«
»Einer von ihnen. Stell mir keine Fragen mehr, Sarah; ich kann es dir nicht sagen.« Sein Kopf näherte sich dem ihren. »Frag mich nicht, Liebes.« Er griff nach ihrer Hand. Sie zog sie nicht zurück. »Und es sind alles Männer?«
»Ja.«
Plötzlich sagte sie schnell und mit völlig veränderter Stimme, ohne Tränen zwar, aber sehr bewegt, als sei die Zeit der Gespräche vorbei und dies ihr Entschluß: »John, ich möchte es wissen. Ich muß es wissen, jetzt, bevor du gehst. Es ist eine schrecklich unenglische Frage, aber seit du dort arbeitest, hast du mir immer wieder gesagt, daß Menschen nicht zählten, ich nicht, Anthony nicht, und nicht die Agenten. Du hast mir gesagt, du hättest eine Berufung gefunden. Was ruft dich, das möchte ich wissen. Was ist das für eine Art Berufung? Das ist die Frage, auf die du mir nie eine Antwort gegeben hast und derentwegen du dich vor mir versteckst. Bist du ein Märtyrer, John? Sollte ich dich für deine Taten bewundern? Bringst du Opfer?«
Avery sagte kurz, wobei er es vermied, sie anzusehen: »Es ist nichts von alledem. Ich mache eine Arbeit. Ich bin ein Techniker, ein Rädchen im Apparat. Du willst mich zu dem Geständnis bringen, daß ich auf zwei verschiedenen Ebenen denke. Du willst mir den Widerspruch beweisen.«
»Nein. Du hast schon gesagt, was ich hören wollte: daß ihr euer Leben abschirmen müßtet und diese Abschirmung nicht durchbrechen dürftet. Das ist nicht auf zwei Ebenen gedacht, sondern überhaupt nicht. Es ist so demütig gehandelt. Hältst du dich wirklich für so klein?«
»Du hast mich klein gemacht. Verhöhne mich nicht. Jetzt machst du mich klein.«
»John, ich schwöre dir, daß ich das nicht will. Als du gestern abend nach Hause kamst, hast du wie frisch verliebt ausgesehen. Auf eine Art verliebt, bei der man zufrieden und glücklich ist. Du wirktest befreit und gelockert. Einen Augenblick dachte ich, du hättest eine Frau gefunden. Das war der Grund, warum ich gefragt habe, ob es nur Männer gebe. Ich dachte, du wärest verliebt. Jetzt sagst du mir, du seist eine Null, und scheinst auch noch stolz darauf zu sein.« Er wartete, dann sagte er mit dem gleichen Lächeln, das er auch Leiser zu schenken pflegte: »Du hast mir schrecklich gefehlt, Sarah. Ich bin in Oxford zu dem Haus gegangen, dem Haus in der Chandos Road, erinnerst du dich? Es ist für uns schön dort gewesen, nicht wahr?« Er drückte ihre Hand. »Sehr schön. Ich dachte daran, an unsere Heirat, an dich. Und an Anthony. Ich liebe dich, Sarah. Ich liebe dich wirklich. Für alles. wie du unseren Sohn erziehst.« Er lachte leise. »Ihr seid beide so verletzbar, daß ich euch manchmal kaum auseinanderhalten kann.« Sie antwortete nicht, also fuhr er fort: »Ich dachte, wir könnten vielleicht aufs Land ziehen, ein Haus kaufen. Ich bin jetzt fest drin: Leclerc würde uns sicher helfen, einen Kredit zu bekommen. Dann könnte Anthony im Garten spielen. Man braucht sich nicht mit allem abzufinden. Wir könnten ins Theater gehen, wie in Oxford.«
Sie sagte abwesend: »Ja, taten wir das? Auf dem Land können wir doch nicht ins Theater gehen, oder?«
»Die Organisation bedeutet mir etwas, verstehst du das nicht? Es ist eine wirkliche Position. Und wichtig, Sarah.«
Sie schob ihn sanft weg. »Meine Mutter hat uns für Weihnachten nach Reigate eingeladen.«
»Wird sehr nett sein. Schau, wegen des Büros: Nach allem, was ich getan habe, ist man mir jetzt verpflichtet. Sie erkennen mich als Gleichwertigen an, als Kollegen. Ich bin einer von ihnen.«
»Du trägst also keine Verantwortung? Du bist nur ein Teil der Gruppe. Also brauchst du keine Opfer zu bringen.« Sie waren so weit wie am Anfang. Avery, der das nicht begriffen hatte, fuhr sanft fort: »Ich kann ihm doch sagen, daß du kommen wirst? Daß wir einmal zusammen essen gehen?«
»Herrgott noch mal, John«, fuhr sie ihn an, »hör auf, mich wie einen deiner verdammten Agenten zu behandeln.«
Haldane saß inzwischen an seinem Schreibtisch und studierte Gladstones Bericht. Zweimal hatte es in der Gegend von Kalkstadt Manöver gegeben: 1952 und 1960. Beim zweitenmal hatte russische Infanterie ohne Deckung aus der Luft, aber mit der Unterstützung schwerer Panzer einen Angriff auf Rostock simuliert. Über das Manöver im Jahre 1952 wußte man wenig, außer, daß ein großer Truppenteil die Stadt Wolken besetzt hatte. Man nahm an, daß sie magentarote Schulterstücke getragen hatten. Der Bericht war nicht zuverlässig. Beide Male war die Gegend zum Sperrgebiet erklärt gewesen, und zwar bis zur Küste im Norden. Der Bericht enthielt auch eine lange Aufzählung der wichtigsten Industrieanlagen dieser Gegend. Es gab einige Hinweise - sie stammten vom Rondell, das sich aber weigerte, die Quelle anzugeben -, daß auf einem Plateau östlich von Wolken eine neue Raffinerie errichtet würde, und daß die maschinelle Ausrüstung aus Leipzig geliefert worden war. Es war zwar unwahrscheinlich, aber doch denkbar, daß das Material auf dem Schienenweg über Kalkstadt befördert worden war. Es gab weder einen Hinweis auf irgendwelche Veränderungen der Bevölkerung oder der Industrie noch irgendeinen Vorfall, der auf eine vorübergehende Absperrung dieser Stadt hätte schließen lassen können.
Unter Haldanes Eingängen lag eine Notiz vom Archiv: Man habe die von ihm angeforderten Akten herausgesucht, er könne sie aber nur in der Bibliothek lesen, da einige den Geheimhaltungsvorschriften unterlägen. Er ging hinunter, öffnete das Kombinationsschloß an der Stahltür zum Archiv und tastete vergebens nach dem Lichtschalter. Schließlich gab er es auf und tastete sich im Dunkeln zwischen den Regalen hindurch bis zu dem kleinen fensterlosen Raum im hintersten Teil des Gebäudes, wo die wichtigsten und strengst geheimen Dokumente aufbewahrt wurden. Es war stockdunkel. Er riß ein Streichholz an, fand den Schalter und machte Licht. Auf dem Tisch lagen zwei mit rotem Band verschnürte Aktenbündel. Das eine war die Akte Mayfly, die bereits drei Ordner füllte und nur einem sehr beschränkten Personenkreis zugänglich war. Eine Liste der entsprechenden Namen war auf den Deckel geklebt. Das zweite Bündel trug die Anschrift: >Betrüger (Sowj. und Ostdeutschland), und war eine in Kartonmappen musterhaft angelegte Sammlung von Papieren und Fotografien. Nach einem kurzen Blick in die Akte Mayfly wandte Haldane seine Aufmerksamkeit den Mappen zu und blätterte in der entmutigenden Ansammlung von Schurken, Doppelagenten und Verrückten, die in jedem denkbaren Winkel der Erde unter jedem denkbaren Vorwand - und manchmal sogar mit Erfolg - versucht hatten, die westlichen Nachrichtendienste zu täuschen. Ihre Arbeitsweise war von langwieriger Gleichförmigkeit: ein Körnchen Wahrheit, das aus Berichten der Tagespresse und dem Tratsch des Wochenmarktes stammte, wurde mit eigenen Zufallsbeobachtungen vermischt, die jegliche Sorgfalt vermissen ließen und dadurch die Verachtung des Betrügers für den Betrogenen verrieten, um sich schließlich in einem Schwall blühender Phantasie aufzulösen, der mit seiner schon beinahe künstlerischen Unverschämtheit auch noch die letzte Beziehung zur Wahrheit zerstörte.