»Wenn Sie schnell gehen«, sagte sie, »sind es nicht einmal zehn Minuten.«
Taylor haßte es, zu warten. Er glaubte, daß Leute, die warten, kein Rückgrat besäßen. Er empfand es als Schande, beim Warten gesehen zu werden. Er schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf, und schritt mit einem verdrießlichen >Gute Nacht, meine Dame< geradewegs in die eisige Kälte hinaus. Taylor hatte noch nie einen Himmel wie diesen gesehen. Er wölbte sich ohne Begrenzung zu den schneebedeckten Feldern herunter, und seine Unerbittlichkeit wurde nur hie und da von einzelnen Nebelschleiern unterbrochen, die einen Hof um den weißen Mond legten und das Licht der Sterne vereisten. Taylor empfand die gleiche Angst, die einen Binnenländer beim Anblick der See befällt. Er beschleunigte seinen unsicheren, schwankenden Schritt. Er war ungefähr fünf Minuten gegangen, als das Auto ihn einholte. Es gab keinen Fußweg neben der Fahrbahn. Zuerst bemerkte er nur die Scheinwerfer, weil der Schnee das Geräusch des Motors verschluckte, und er begriff nur, daß die Gegend vor ihm beleuchtet war, ohne zu wissen, woher das Licht kam. Der matte Schein wanderte gemächlich über die Schneelandschaft, und eine Zeitlang glaubte Taylor, es sei der Scheinwerfer vom Flughafen. Dann sah er, daß sich sein eigener Schatten auf der Straße verkürzte; das Licht wurde plötzlich heller, und er begriff, daß es ein Auto sein mußte. Er ging auf der rechten Seite und schritt flink an der Kante des vereisten Straßenrandes aus. Er stellte fest, daß das Licht ungewöhnlich gelb war, und vermutete, daß es französische Scheinwerfer waren. Diese kleine Schlußfolgerung erfüllte ihn mit großer Genugtuung: sein Verstand war trotz allem noch ziemlich klar.
Er blickte nicht über die Schulter, weil er auf seine Art schüchtern war und nicht den Eindruck erwecken wollte, er wünsche mitgenommen zu werden. Aber ihm fiel ein, vielleicht ein bißchen spät, daß man auf dem Kontinent rechts fuhr und er genaugenommen auf der falschen Straßenseite ging, und daß er etwas dagegen tun müßte.
Das Auto erfaßte ihn von hinten; es brach ihm das Rückgrat. Einen fürchterlichen Augenblick lang verkörperte Taylor den klassischen Ausdruck des Schmerzes: Kopf und Schultern gewaltsam nach hinten geworfen, die Finger gespreizt. Er schrie nicht. Es hatte den Anschein, als konzentrierten sich Körper und Seele auf diese letzte Darstellung des Schmerzes, die im Tode ausdrucksvoller war als irgendein Laut, den er im Leben je von sich gegeben hatte. Das Auto schleifte ihn einige Meter weit mit und warf ihn dann zur Seite, tot auf die leere Straße: ein steifer, zerstörter Körper am Rande der Einöde. Dann erfaßte ein plötzlicher Windstoß den neben ihm liegenden Hut und trug ihn über den Schnee. Die Fetzen seines Wettermantels flatterten im Wind und haschten vergeblich nach der Zinkkapsel, während sie langsam zum gefrorenen Straßenrand rollte, um dann müde über die Kante des Abhanges zu verschwinden.
Zweiter Teil
AVERYS EINSATZ
»Es gibt Dinge, die von einem weißen Mann zu verlangen, niemand das Recht hat.«
JOHN BUCHAN, »MR. STANDFAST«
2. Kapitel
VORSPIEL
Es war drei Uhr morgens.
Avery legte den Hörer auf, weckte Sarah und sagte: »Taylor ist tot.« Er hätte es ihr natürlich nicht sagen dürfen.
»Wer ist Taylor?«
Ein langweiliger Kerl, dachte er; er erinnerte sich seiner nur undeutlich. Ein jämmerlicher, langweiliger Engländer.
»Ein Mann vom Kurierdienst«, sagte er. »Er war schon im Krieg dabei. Ein ziemlich tüchtiger Mann.«
»Das sagst du bei jedem. Alle sind sie tüchtig. Also, wie ist er gestorben? Wie kam er ums Leben?« Sie setzte sich im Bett auf.
»Leclerc wartet noch auf näheren Bescheid.« Avery wünschte, sie würde ihm nicht beim Anziehen zusehen.
»Und er will, daß du ihm beim Warten hilfst?«
»Er will, daß ich ins Büro komme. Er möchte mich um sich haben. Du erwartest doch nicht von mir, daß ich mich umdrehe und weiterschlafe, oder?«
»Ich habe nur gefragt«, sagte Sarah. »Du bist Leclerc gegenüber immer so rücksichtsvoll.«
»Taylor gehörte zum alten Stab. Leclerc ist sehr beunruhigt.« Er konnte noch immer den Triumph in Leclercs Stimme hören: »Kommen Sie sofort her, nehmen Sie sich ein Taxi; wir gehen die Akte noch mal durch.«
»Kommt das denn oft vor? Sterben oft Leute?« Ihre Stimme klang entrüstet, als erfahre sie nie irgend etwas, als sei sie die einzige, der Taylors Tod naheging. »Du darfst das niemandem erzählen«, sagte Avery.
Damit hielt er sie in ihren Schranken. »Du darfst nicht einmal erwähnen, daß ich mitten in der Nacht weg mußte. Taylor reiste unter falschem Namen.« Er fügte hinzu: »Irgend jemand wird seine Frau verständigen müssen.« Er suchte seine Brille. Sarah stand auf und zog einen Schlafrock an. »Um Himmels willen, hör auf! Die Sekretärinnen wissen davon, warum sollen es die Frauen nicht wissen dürfen? Oder verständigt man sie nur, wenn ihre Männer sterben?« Sie ging zur Tür.
Sie war mittelgroß und trug ihr Haar lang, eine Frisur, die nicht zu ihrem Gesicht paßte. Spannung lag in ihrer Miene, Angst, beginnende Unzufriedenheit, als werde das Morgen noch schlechter sein als das Heute. Sie hatten einander in Oxford kennengelernt: ihr akademischer Grad war höher als der seine. Aber irgendwie hatte sie sich in der Ehe wieder zurückentwickelt. Wie bei einem Kind war ihre Abhängigkeit zu etwas Natürlichem geworden: als habe sie Avery etwas Unwiederbringliches gegeben und verlange es ständig zurück. Ihr Sohn war weniger ihr Geschöpf als vielmehr ihre Rechtfertigung, und sie benutzte ihn als Schutzwall gegen die Welt statt als Zugang zu ihr. »Was machst du?« fragte Avery. Manchmal tat sie Dinge aus bloßem Trotz, wie zum Beispiel neulich, als sie eine Konzertkarte zerriß. Sie sagte: »Wir haben ein Kind, hast du das vergessen?« Er hörte, daß Anthony weinte. Sie mußten ihn geweckt haben. »Ich rufe dich vom Büro aus an.« Er ging zur Eingangstür. Als sie zum Kinderzimmer kam, drehte sie sich um, und Avery wußte, daß sie nun dachte, er habe ihr keinen Kuß gegeben. »Du hättest beim Verlag bleiben sollen«, sagte sie. »Das hat dir genausowenig gepaßt.«
»Warum schickt man dir keinen Wagen?« fragte sie. »Du hast gesagt, ihr habt eine Unmenge Wagen.«
»Er wartet an der Ecke.«
»Warum, um Himmels willen?«
»Es ist sicherer.«
»Sicherer wovor?«
»Hast du Geld?« fragte er. »Ich glaube, ich bin blank.«
»Wozu?«
»Einfach Geld, nur so! Ich kann nicht ohne einen Penny in der Tasche herumlaufen.« Sie gab ihm zehn Shilling aus ihrer Handtasche. Er schloß schnell die Tür hinter sich und ging die Treppe hinunter, auf den Prince of Wales Drive hinaus. Er ging an den Fenstern der Parterrewohnung vorbei und wußte, ohne hinzusehen, daß Mrs. Yates ihn hinter dem Vorhang beobachtete, wie sie, mit der Katze im Arm, Tag und Nacht jeden beobachtete. Es war bitter kalt. Der Wind schien vom Fluß über den Park herüberzuwehen. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, sie war leer. Er hätte den Taxistandplatz in Clapham anrufen sollen, aber er hatte es eilig gehabt, aus der Wohnung wegzukommen. Außerdem hatte er Sarah erzählt, es käme ein Wagen. Er schritt etwa hundert Meter in Richtung des E-Werkes, änderte dann seine Absicht und ging wieder zurück. Er war müde. Seltsamerweise kam es ihm so vor, als höre er sogar auf der Straße noch das Telefon läuten. Am sichersten war es noch, zur Albert Bridge zu gehen. Dort konnte man manchmal zu den ausgefallensten Zeiten ein Taxi finden. Also ging er wieder am Eingang zu seinem Haus vorbei, sah zum Kinderzimmer hinauf, und da stand Sarah und schaute herunter. Sie mußte sich gefragt haben, wo denn der Wagen blieb. Sie hielt Anthony im Arm, und er wußte, daß sie weinte, weil er sie nicht geküßt hatte. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe er ein Taxi zur Blackfriars Road fand. Avery beobachtete die vorbeifliegenden Straßenlampen. Er war noch recht jung und gehörte zu jener, erst in unserer Zeit entstandenen Gesellschaftsschicht von Engländern, die ein Bakkalaureat der Philosophischen Fakultät erworben haben und diese Tatsache nun mit ihrer Herkunft aus kleinen Verhältnissen in Einklang bringen müssen. Er war groß und wirkte mit seinen hinter einer Brille verborgenen trägen Augen wie ein Bücherwurm. Dazu hatte er eine freundliche, zurückhaltende Art, die ihn bei der älteren Generation beliebt machte. Die Bewegung des Taxis war ihm so angenehm, wie einem Kind das Schaukeln. Der Wagen fuhr über den St. George's Circus und an der Augenklinik vorbei in die Blackfriars Road. Ehe sich Avery es versah, waren sie vor dem Haus, aber er bat den Fahrer, ihn erst an der nächsten Ecke abzusetzen, denn Leclerc hatte ihn ermahnt, vorsichtig zu sein.