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Leiser sollte die rund zweihundert Meter lange Strecke vom Fuß des Hügels bis zum Wachtturm wenn möglich kriechend zurücklegen und seinen Kopf dabei unterhalb der Farnkrautspitzen halten. Das schloß die ohnedies geringe Möglichkeit aus, daß man ihn vom Turm aus bemerkte. Leiser wäre es sicher angenehm zu hören, bemerkte Leclerc mit einem kleinen Lächeln, daß in den Nachtstunden niemand je Patrouillen westlich des Zaunes bemerkt hatte. Die ostdeutschen Wachen schienen zu befürchten, einer ihrer eigenen Leute könnte sich ungesehen aus dem Staub machen.

Einmal drüben, sollte sich Leiser von jedem vorgezeichneten Weg fernhalten. Das Gelände sei hügelig und zum Teil bewaldet. Das erschwere seinen Marsch, erhöhe aber auch seine Sicherheit. Er müsse nach Süden gehen. Der Grund dafür sei einfach: weiter südlich schwinge die Grenze etwas über zehn Kilometer nach Westen aus, so daß Leiser in einer halben Stunde nicht zwei, sondern fünfzehn Kilometer zwischen sich und die Grenze bringen könne und auf diese Weise schneller aus dem Bereich der die Zugänge zur Grenze bewachenden Streifen entkomme. Leclerc wolle ihm deshalb den Rat geben - er zog dabei seine Hand aus der Tasche des Dufflecoats und zündete sich im Bewußtsein, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, eine Zigarette an -, ungefähr eine halbe Stunde lang nach Osten zu gehen und sich dann direkt nach Süden zu wenden, bis er den Marienhorster See erreiche. Am östlichen Ende des Sees befinde sich ein unbenutztes Bootshaus, wo er sich ein Stündchen hinlegen und etwas essen könne. Er werde inzwischen vielleicht auch schon Lust auf einen Drink bekommen haben - erleichtertes Gelächter - und für diesen Zweck werde er ein kleines Fläschchen Weinbrand in seinem Rucksack finden. Leclerc hatte die Angewohnheit, stramme Haltung anzunehmen, wenn er einen Witz machte, und dabei die Fersen vom Boden zu heben, als wolle er seinen Geist in höhere Regionen abfeuern. »Es könnte wohl nichts mit Gin sein, oder?« fragte Leiser. »An sich trinke ich immer White Lady.« Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen.

»Ausgeschlossen«, sagte Leclerc kurz - ganz Leisers Vorgesetzter.

Nach der Rast sollte er bis zum Dorf Marienhorst weitergehen und sich nach einer Transportmöglichkeit Richtung Schwerin umsehen. Von da an, ergänzte Leclerc obenhin, sei er auf sich selbst gestellt. »Sie haben alle Papiere, die zu einer Reise von Magdeburg nach Rostock nötig sind. Ab Schwerin sind Sie also auf der normalen Strecke. Über Ihre Tarnung möchte ich gar nicht mehr viel sagen. Das haben Sie ja schon alles mit dem Captain durchgenommen. Ihr Name ist Fred Hartbeck. Sie sind ein unverheirateter Mechaniker aus Magdeburg und haben ein Arbeitsangebot für die volkseigene Schiffswerft in Rostock.« Leclerc lächelte. »Ich bin überzeugt, daß Sie all dies bis ins kleinste Detail im Schlaf beherrschen. Ihre Amouren, Höhe des Lohnes, welche Krankheiten Sie gehabt haben, Militärdienst und so weiter. Nur eine Kleinigkeit über die Tarnung möchte ich noch hinzufügen: drängen Sie derartige Auskünfte niemandem freiwillig auf. Niemand erwartet von seinem Mitmenschen, daß er irgend etwas von sich aus erklärt. Wenn man Sie in die Ecke treibt, verlassen Sie sich auf Ihr Fingerspitzengefühl. Immer so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben.« Und mit erhobener Stimme erklärte Leclerc eine seiner Lieblingsthesen: »Tarnung sollte niemals freie Erfindung, sondern immer nur eine Verlängerung der Wahrheit sein.« Leiser lachte verhalten. Es wirkte so, als wäre ihm wohler gewesen, wenn Leclerc über etwas mehr Körpergröße verfügt hätte.

Johnson kam aus der Küche und brachte Kaffee, wofür ihm Leclerc ein munteres >Danke, Jack<, zurief, als sei alles genau so, wie es zu sein hatte. Nun wandte sich Leclerc der eigentlichen Aufgabe Leisers zu. Er schilderte zusammenfassend die verschiedenen Hinweise, die - wie er durchblicken ließ - nur einen Verdacht bestärkten, den er persönlich schon längst gehegt habe. Er schlug dabei einen Ton an, den Avery noch nie bei ihm wahrgenommen hatte: er bemühte sich, sowohl durch Weglassen und stillschweigende Schlußfolgerungen wie durch direkte Hinweise auszudrücken, daß sie alle einer ungemein erfahrenen und bestens informierten Organisation angehörten, die sich nicht nur durch ihre Geldmittel, sondern auch durch ihre Beziehungen zu anderen Dienststellen wie durch ihre unfehlbare Urteilsfähigkeit einer derart überirdischen und hellseherischen Unantastbarkeit erfreute, daß sich Leiser sehr wohl hätte fragen können, weshalb er sein Leben überhaupt riskieren mußte, wenn das alles wirklich so war. »Die Raketen befinden sich jetzt in dem bezeichneten Gebiet«, sagte Leclerc. »Der Captain hat Ihnen bereits auseinandergesetzt, nach welchen besonderen Merkmalen Sie Ausschau halten müssen. Wir möchten wissen, wie sie aussehen, wo sie sich genau befinden und vor allem, von welchen Einheiten sie bedient werden.«

»Ich weiß.«

»Sie müssen die üblichen Tricks anwenden. Horchen Sie in den Kneipen herum, tun Sie so, als suchten Sie einen alten Kriegskameraden. Sie kennen das ja. Wenn Sie Bescheid wissen, kommen Sie zurück.« Leiser nickte.

»In Kalkstadt gibt es eine Arbeiter-Herberge.« Leclerc entfaltete einen Plan der Stadt. »Hier, gleich neben der Kirche. Steigen Sie dort ab, wenn's geht. Womöglich treffen Sie dort Leute, die irgendwie selbst damit zu tun gehabt haben...«

»Ich weiß«, wiederholte Leiser. Haldane zuckte zusammen und warf ihm einen besorgten Blick zu. »Vielleicht hören Sie sogar etwas über einen Mann, der auf dem Bahnhof gearbeitet hat, einen gewissen Pritsche. Von ihm stammen ein paar interessante Einzelheiten über die Raketen. Er ist dann wieder verschwunden. Vielleicht hören Sie etwas, wenn es der Zufall will. Sie könnten am Bahnhof nach ihm fragen, wenn Sie sich als alter Freund von ihm ausgeben.« Er machte eine ganz kleine Pause. »Einfach verschwunden«, wiederholte Leclerc. Es galt den anderen, nicht sich selbst. Seine Gedanken waren woanders. Avery beobachtete ihn gespannt. Er wartete, daß Leclerc weitersprach. Schließlich sagte er: »Über die Frage der Nachrichtenübermittlung habe ich absichtlich nicht gesprochen.« Sein Ton deutete an, daß er fast fertig war. »Ich nehme an, daß Sie dieses Problem schon oft genug durchgekaut haben.«

»In der Beziehung gibt es keinerlei Schwierigkeiten«, sagte Johnson. »Alle Sendetermine liegen in der Nacht. Dadurch ist der Frequenzbereich eine ganz einfache Angelegenheit. Und tagsüber hat er freie Hand, Sir. Wir haben eine ganze Reihe hübscher Probesendungen gemacht - nicht wahr, Fred?«

»O ja. Sehr hübsche.«

»Was das Zurückkommen betrifft«, sagte Leclerc, »so gelten dafür die gleichen Vorschriften wie im Krieg. Es gibt für derartige Unternehmungen leider keine U-Boote mehr, Fred. Wenn Sie zurückkommen, haben Sie sich sofort beim nächsten britischen Konsulat oder der nächsten Botschaft zu melden. Sie nennen Ihren richtigen Namen und bitten um Repatriierung. Geben Sie sich als britischer Staatsbürger in plötzlicher Notlage aus. Rein instinktmäßig würde ich sagen, daß Sie auf dem gleichen Weg wieder zurückkommen sollten, auf dem Sie hineingegangen sind. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten, dann schlagen Sie sich nicht unbedingt sofort nach Westen durch, sondern verkriechen Sie sich irgendwo für einige Zeit. Sie werden genug Geld bei sich haben.«

Avery wußte, daß er diesen Vormittag nie mehr vergessen würde, an dem sie um den Tisch in der Bauernstube gesessen hatten, wie Jungen in einem Zelt, und ihre gespannten Gesichter Leclerc zugewandt gewesen waren, der in Kirchenstille die Liturgie ihres Glaubensbekenntnisses verlesen und dabei seine schmalen Priesterhände über der Landkarte hin und her bewegt hatte, als sei sie das Meßbuch. Alle in dem Raum Versammelten - und Avery vielleicht am besten von ihnen - kannten den tödlichen Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Motiv und Tat. Avery hatte mit Taylors Kind gesprochen, hatte seine halbfertigen Lügen vor Peersen und dem Konsul hervorgestammelt. Er hatte das furchterregende Geräusch eines Schrittes vor seiner Hotelzimmertür gehört und hatte nach seiner Rückkehr von dieser alptraumartigen Reise gesehen, wie seine eigenen Erlebnisse in erkennbare Bilder aus Leclercs Welt verwandelt wurden. Und dennoch lauschte Avery mit der gleichen Frömmigkeit eines Agnostikers, die auch Haldane und Leiser erfüllte, auf Leclercs Stimme - wahrscheinlich in dem Gefühl, daß dies alles so war, wie es an einer reinen und magischen Stätte wirklich sein sollte.