»Verzeihung«, sagte Leiser, der den Plan von Kalkstadt studiert hatte. Er wirkte in diesem Augenblick wie der typische kleine Mann. Es war, als ob er auf einen Defekt an einem Motor hinwies. Bahnhof, Herberge und Kirche waren grün angezeichnet. In der unteren linken Ecke des Blattes war eine Detailskizze der Eisenbahnschuppen und Lagerhallen. Auf jeder Seite war die Himmelsrichtung notiert: Ansicht von Westen, Ansicht von Norden.
»Was heißt hier Ansicht, Sir?« erkundigte sich Leiser. »Die Blickrichtung, die Ansicht.«
»Wozu ist das? Warum steht das bitte auf der Karte?« Leclerc lächelte. »Für Orientierungszwecke, Fred.« Leiser stand auf und untersuchte den Plan noch einmal genau. »Und dies hier ist die Kirche?«
»Stimmt, Fred. Das ist die Kirche.«
»Warum sieht sie nach Norden? Kirchen stehen doch immer in der Ost-West-Richtung. Hier ist der Eingang im Osten eingezeichnet, wo der Altar sein müßte.« Haldane beugte sich vor; sein rechter Zeigefinger lag über seinen Lippen.
»Es ist nur eine rohe Skizze«, sagte Leclerc. Leiser ließ sich wieder auf seinem Platz nieder, saß in besonders strammer Haltung. »Verstehe. Verzeihung.«
Als die Besprechung zu Ende war, nahm Leclerc Avery beiseite. »Noch etwas, Avery: er darf die Pistole nicht mitnehmen. Das kommt gar nicht in Frage. Der Minister war in dieser Frage völlig unzugänglich. Vielleicht könnten Sie es ihm gegenüber erwähnen.«
»Keine Pistole?«
»Ich glaube, daß wir ihm das Messer lassen können. Es ist ein Allzweckgerät. Ich will damit sagen, daß wir im Fall von Schwierigkeiten immer behaupten können, daß er es nur für allgemeine Zwecke bei sich hatte.« Nach dem Essen besichtigten sie die Grenze. Gorton hatte einen Wagen zur Verfügung gestellt. Leclerc hatte eine Handvoll Notizen mitgebracht, die er nach einem Rondell-Bericht über das Grenzgebiet angefertigt hatte. Diese Zettel, zusammen mit einer gefalteten Landkarte, lagen vor ihm auf seinem Schoß. Die zwischen den beiden Hälften Deutschlands verlaufende Grenze ist auf weite Strecken ein Ding von erschreckender Inkonsequenz. Wer dort nach Panzersperren oder Befestigungsanlagen Ausschau hält, wird ziemlich enttäuscht sein. Sie verläuft durch eine sehr abwechslungsreiche Landschaft aus Gräben, niedrigen, mit Farnkraut bewachsenen Hügeln und kleinen Inseln ungepflegten Waldes. Oft sind die östlichen Sperren so weit hinter der Demarkationslinie, daß es den Anschein hat, sie sollten vor westlichen Blicken verborgen bleiben - die Phantasie erhält nur da und dort von einem einzelnen Unterstand, einem unbenutzten Feldweg, einem leer und verlassen dastehenden Bauernhaus oder einem der verstreut stehenden Wachttürme Nahrung.
Die westliche Seite ist an mehreren Stellen mit grotesken Denkmälern der politischen Kraftlosigkeit herausgeputzt: aus einem brachliegenden Feld ragt ohne erkennbaren Sinn ein Sperrholzmodell des Brandenburger Tores, das von rostenden Schrauben zusammengehalten wird; große, von Wind und Regen mitgenommene Plakattafeln verkünden fünfzehn Jahre alte Schlagworte über ein leeres Tal hinweg. Nur in der Nacht, wenn der Lichtkegel eines Scheinwerfers aus der Dunkelheit bricht und als unruhiger Finger über die kalte Erde tastet, krampft sich das Herz im Gedanken an den Flüchtling zusammen, der wie ein Hase in der Ackerfurche dahinkriecht und auf den Augenblick wartet, in dem er aus der Deckung hervorbrechen und voller Entsetzen so lange davonstürzen wird, bis ihn die Kugel ereilt.
Sie fuhren auf der Schotterstraße, die sich am Kamm des Hügels dahinzieht. An jenen Stellen, an denen die Straße der Grenze besonders nahe kommt, hielten sie an und stiegen aus. Leiser war in einen Regenmantel gehüllt und hatte einen Hut auf. Es war sehr kalt. Leclerc trug seinen Dufflecoat und hatte einen Jagdstock mit, den er weiß Gott wo gefunden haben mochte. Als sie das erstemal, das zweitemal und schließlich noch einmal hielten, sagte Leclerc ruhig: »Hier nicht.« Als sie zum viertenmal wieder ins Auto kletterten, erklärte er: »Die nächste Station ist unsere.« Es war die Art Scherz, mit der man sich gerne in der Schlacht Mut macht.
Avery hätte die Stelle auf Grund von Leclercs Planskizze niemals erkannt. Der Hügel war da, das schon, auch seine Krümmung in Richtung zur Grenze und der steile Abhang an seinem Ende. Aber das Gelände jenseits der Grenze war wieder hügelig und teilweise bewaldet, und sein Horizont war mit Baumwipfeln wie mit Fransen besetzt, vor denen sie mit Hilfe ihrer Feldstecher die braunen Umrisse eines hölzernen Turmes erkennen konnten. »Es ist zwischen den drei Pfosten auf der linken Seite«, sagte Leclerc. Als sie die Talsenke mit ihren Gläsern genau untersuchten, konnte Avery hier und da ein verwachsenes Stück des alten Weges sehen.
»Er ist vermint. Der Weg ist auf der ganzen Strecke vermint. Vom Fuß des Hügels an gehört das Gelände schon zu drüben.« Leclerc wandte sich zu Leiser. »Sie gehen von hier los, und zwar«
- er deutete mit dem Jagdstock - »bis zum Abhang vor, wo Sie bis zum genauen Zeitpunkt des Abmarsches liegen bleiben. Wir werden Sie genügend lange vorher schon herbringen, damit sich Ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen können. Ich glaube, daß wir jetzt gehen sollten. Wir dürfen nämlich kein Aufsehen erregen.«
Während der Fahrt zurück ins Haus klatschte der Regen gegen die Windschutzscheibe und trommelte auf das Dach des Wagens. Avery, der neben Leiser saß, war in Gedanken versunken. Er glaubte, ein besonders objektiver Beobachter zu sein, als er sich nun klarmachte, daß in derselben Angelegenheit, in der Leiser die Rolle aus einer Tragödie zu spielen hatte, er selbst eine Lustspielfigur verkörperte. Er verstand, daß er einem irrsinnigen Stafettenlauf zusah, bei dem jeder Teilnehmer schneller und länger rannte als sein Vorläufer, und dessen Ziel die eigene Vernichtung war.
»Übrigens«, sagte er unvermittelt zu Leiser, »sollten Sie nicht etwas mit Ihren Haaren machen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die da drüben an derartige Pomaden gewöhnt sind. So was kann dann plötzlich gefährlich sein.«
»Er braucht es nicht schneiden zu lassen«, urteilte Haldane. »Die Deutschen lieben es, lange Haare zu haben. Sie sollten es nur waschen, Fred, mehr nicht. Nur das Öl herauswaschen. - Sehr richtig beobachtet, John, ich gratuliere.«
17. Kapitel
Der Regen hatte aufgehört. Langsam und sich gegen den Wind sträubend, kam die Nacht. Sie saßen im Bauernhaus um den Tisch und warteten. Leiser war in seinem Zimmer. Johnson hatte Tee gekocht und beschäftigte sich mit seinem Gerät. Niemand sprach. Die Zeit der Verstellung war vorüber. Nicht einmal Leclerc, sonst ein Meister der leeren Phrasen, gab sich noch Mühe, das Schweigen zu brechen. Es schien ihm einfach unangenehm, daß man ihn warten ließ wie bei der verspäteten Hochzeit eines Bekannten. Sie waren in einen Zustand träger Furcht geraten, wie die Besatzung eines Unterseebootes, über deren Köpfe gemächlich eine Lampe hin und her pendelt. Ab und zu wurde Johnson vor die Tür geschickt, um nach dem Mond zu sehen, und jedesmal berichtete er, er sei nicht sichtbar.
»Die Berichte der Wetterfrösche waren ziemlich günstig«, meinte Leclerc und entfernte sich in Richtung Dachboden, wo er Johnson bei der Überprüfung seiner Geräte zusah.
Als Avery mit Haldane allein war, sagte er schnelclass="underline" »Er sagt, das Ministerium habe sich gegen die Pistole entschieden. Er darf keine mitnehmen.«