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Er begann den Hügel hinauf zukriechen, robbte mit den Ellbogen und schob den Koffer vor sich her. Die ganze Zeit war ihm bewußt, daß sich der Buckel auf seinem Rücken über die Spitzen der Farnkräuter hinauswölbte.

Das Wasser durchtränkte seine Kleider, er spürte es frei über Schenkel und Knie laufen. Der Geruch von modrigem Laub füllte seine Nase. Sein Haar blieb immer wieder an Zweigen hängen. Die ganze Natur schien sich verschworen zu haben, ihn aufzuhalten. Er starrte den Hang hinauf und entdeckte vor der schwarzen Wand der Bäume die Silhouette des Turmes. Auf dem Turm war kein Licht. Er lag still. Es war zu weit. Niemals würde er so weit kriechen können. Auf seiner Uhr war es jetzt Viertel vor drei. Die Ablösung würde von Norden kommen. Er nahm den Rucksack ab und stand auf. Den Rucksack hielt er unter dem Arm wie ein kleines Kind; in der anderen Hand den Koffer. So begann er vorsichtig den Hang hinaufzugehen, wobei er sich links von dem ausgetretenen Pfad hielt und die Silhouette des Turmes nicht aus den Augen ließ. Plötzlich stand er dicht davor. Der Turm sah aus wie das Skelett eines Ungeheuers.

Der Wind pfiff über den Hügelkamm. Direkt über sich hörte Leiser eine locker gewordene Latte gegen die Balken schlagen, dann das langgezogene Knarren von altem Holz. Es war nicht ein Draht, sondern zwei. Als er daran zog, lösten sie sich von dem Pfosten. Er stieg darüber weg, befestigte sie wieder und starrte in den vor ihm liegenden Wald. Selbst in diesem Augenblick unsagbarer Angst, da ihn der in die Augen rinnende Schweiß fast blind machte und das Klopfen seiner Schläfen den Wind übertönte, empfand er noch eine tiefe, vertrauende Dankbarkeit gegenüber Avery und Haldane, als sei der Betrug, den sie an ihm begangen hatten, zu seinem eigenen Vorteil gewesen. Dann sah er den Posten, wie die Silhouette im Schießstand, kaum zehn Meter vor sich. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm auf dem alten Weg und hatte sein Gewehr über die Schulter gehängt. Sein plumper Körper schwankte langsam von einer Seite zur anderen, während er mit den Füßen stampfte, um sich warm zu halten. Leiser roch Tabak und Kaffee, nur eine Sekunde lang, ein Geruch so warm wie eine Wolldecke. Er stellte Rucksack und Koffer nieder und bewegte sich instinktiv auf den Schatten zu. Es war genauso wie in der Turnhalle zu Headington. Er spürte hart das Heft seines Messers in der Hand, die kreuzweise Riffelung, die das Abgleiten verhindern sollte. Der Posten war ein ziemlich junger Bursche unter seinem schweren Uniformmantel; Leiser war erstaunt, wie jung. Er tötete ihn hastig, mit einer einzigen Bewegung; wie ein Fliehender wohl in eine Menge schießt, kurz und nicht um zu töten, sondern um vorzubeugen; ungeduldig, weil er machen mußte, daß er weiterkam; gleichgültig, weil es so angelernt war. »Können Sie irgend etwas sehen?« wiederholte Haldane.

»Nein.« Avery reichte ihm den Feldstecher. »Er ist von der Dunkelheit einfach verschluckt worden.«

»Können Sie auf dem Turm ein Licht sehen? Sie würden die Scheinwerfer anmachen, wenn sie etwas gehört hätten.«

»Nein. Ich habe nur nach Leiser Ausschau gehalten«, antwortete Avery.

»Sie sollten ihn Mayfly nennen«, rügte Leclerc hinter ihrem Rücken. »Jetzt kennt Johnson den Namen.«

»Ich werde ihn vergessen, Sir.«

»Auf jeden Fall ist er drüben«, sagte Leclerc und ging zum Wagen.

Sie fuhren schweigend zurück. Während sie auf das Haus zugingen, spürte Avery einen freundschaftlichen Klaps auf seiner Schulter und erwartete, beim Zurückblicken in Johnsons Gesicht zu sehen. Statt dessen aber blickte er in das ausgezehrte Gesicht Haldanes, das aber so verändert wirkte, so merklich entspannt, daß es die jugendliche Ruhe eines Mannes widerzuspiegeln schien, der soeben eine lange Krankheit überwunden hatte. Der letzte Schmerz war von ihm gewichen. »Ich halte nicht viel von großen Lobreden«, sagte Haldane.

»Glauben Sie, daß er gut hinübergekommen ist?«

»Sie haben gut gearbeitet.« Haldane lächelte. »Wir hätten etwas gehört, nicht wahr? Die Schüsse. Oder wir hätten zumindest die Scheinwerfer gesehen.«

»Er ist jetzt unserer Fürsorge entzogen. Gut gemacht.« Er gähnte. »Ich schlage vor, früh zu Bett zu gehen. Wir haben jetzt nichts mehr zu tun. Nur bis morgen abend, natürlich.« An der Tür blieb er stehen, und ohne den Kopf zu wenden, sagte er: »Wissen Sie, es kommt einem so unwirklich vor. Im Krieg, da war es keine Frage. Sie gingen oder sie weigerten sich. Warum ging er, Avery? Jane Austen sagte: Geld oder Liebe, das seien die zwei einzigen Dinge in der Welt. Leiser ging nicht um des Geldes willen.«

»Sie meinten, man könne das nie so genau wissen.

Das sagten Sie an dem Abend, als er anrief.«

»Er erklärte mir, er gehe aus Haß. Aus Haß gegen die Deutschen. Das habe ich ihm nicht geglaubt.«

»So oder so; er ist gegangen. Ich dachte, das sei das einzige, worauf es Ihnen ankommt. Sie sagten einmal, daß Sie Motiven mißtrauen.«

»Haß wäre für ihn kein Grund, eine derartige Arbeit zu übernehmen. Das ist uns ja wohl klar. Was für ein Mensch ist er eigentlich? Wir haben ihn nicht wirklich kennengelernt, oder? Für ihn kann jetzt jeden Augenblick alles vorbei sein - womit beschäftigen sich in dieser Lage seine Gedanken? Wenn er jetzt sterben sollte, heute nacht - woran wird er denken?«

»So etwas sollten Sie nicht aussprechen.«

»Ach.« Endlich wandte er sich nun doch zu Avery. Der friedliche Ausdruck war nicht von seinem Gesicht gewichen. »Als wir das erstemal mit ihm zusammenkamen, war er ein Mensch ohne Liebe. Wissen Sie, was Liebe ist? Ich werd's Ihnen sagen: sie ist all das, was man noch immer verraten kann. Was uns anbelangt, so leben wir ohne sie in unserem Beruf. Wir zwingen niemanden, für uns zu arbeiten. Wir lassen die Leute nur die Liebe entdecken. Natürlich hat Leiser das getan, oder nicht? Er hat uns sozusagen wegen des Geldes geheiratet und aus Liebe verlassen. Er leistete den zweiten Schwur. Ich frage mich nur, wann das war.«

»Wie meinen Sie das: wegen des Geldes?« sagte Avery schnell.

»Ich meine, was immer wir ihm gegeben haben, er jedenfalls hat uns Liebe gegeben. Ich sehe da gerade zufällig, daß Sie seine Uhr tragen.«

»Ich bewahre sie nur für ihn auf.«

»Ach so. Gute Nacht. Oder guten Morgen, eigentlich.«

Ein kleines Lachen. »Wie schnell man doch jeden Sinn für Zeit verliert.« Dann bemerkte er, mehr zu sich selbst: »Und das Rondell hat uns die ganze Zeit geholfen. Sehr seltsam. Ich frage mich, warum.« Sorgfältig reinigte Leiser sein Messer. Es war schmutzig und mußte gewaschen werden. Im Bootshaus aß er seinen Proviant und trank den Cognac aus der Flasche. »Danach«, hatte Haldane gesagt, »müssen Sie sich aus dem Land versorgen. Sie können nicht mit Fleischkonserven und französischem Cognac umherlaufen.« Er öffnete die Tür und ging hinaus, um sich Gesicht und Hände im See zu waschen. Die Wasserfläche lag unbewegt in der Dunkelheit. Ihr glatter Spiegel war wie eine makellose Haut, die schwebende graue Nebelschleier bedeckten. Er konnte das am Ufer wachsende Schilf erkennen, das leise von dem über die Wasserfläche streichenden, vor der Morgendämmerung fliehenden Wind berührt wurde. Jenseits des Sees hingegen hingen schattenhaft die Umrisse einer niedrigen Hügelkette. Er fühlte sich erholt und ruhig. Bis ihm, wie ein Schauder, der Gedanke an den Jungen überfiel.