Er schleuderte die leere Fleischdose und die kleine Flasche weit in den See hinaus, und als sie ins Wasser klatschten, erhob sich träge ein Reiher aus dem Schilf. Leiser bückte sich nach einem Kieselstein, den er über die Wasserfläche tanzen ließ. Er hörte, daß er dreimal aufschlug, ehe er unterging. Er versuchte es noch einmal, aber dreimal sprang der Stein nicht mehr. Er ging in die Hütte zurück und holte den Rucksack und seinen Koffer. Sein rechter Arm schmerzte sehr. Das mußte vom Gewicht des Koffers sein. Irgendwoher drang das Muhen von Kühen. Er ging auf dem Uferweg nach Osten. Er wollte so weit wie möglich kommen, ehe der Tag begann. Ein halbes Dutzend Dörfer mußte er schon durchquert haben. Jedes war ohne Leben gewesen, ruhiger als die offene Landstraße, weil die Häuser für einen Augenblick den Wind abhielten. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er keine Wegweiser und kein einziges neues Gebäude gesehen hatte. Das war es, was den friedlichen Eindruck erweckte. Es war die Ruhe der fehlenden Erneuerung- so hatte es auch schon vor fünfzig Jahren hier ausgesehen, oder vor hundert. Es gab keine Straßenbeleuchtung, keine bunten Schilder an den Kneipen und Geschäften. Es war die Dunkelheit der Gleichgültigkeit, und das beruhigte ihn. Er lief in diesen Frieden hinein, wie ein müder Mann in die See taucht: er gab ihm Kühlung und belebte ihn, wie der Wind, bis er sich an den Jungen erinnerte. Er kam an einem allein stehenden Bauernhaus vorbei. Ein langer Weg führte von der Straße zu dem Haus. Er blieb stehen. Auf halber Höhe stand ein Motorrad, ein alter Regenmantel lag über dem Sattel. Niemand war zu sehen. Der Ofen qualmte.
»Wann war doch sein erster Sendetermin?« fragte Avery. Er hatte schon mehrmals gefragt. »Johnson sagte, um zweiundzwanzig Uhr zwanzig. Eine Stunde vorher werden wir anfangen, das Wellenband abzutasten.«
»Ich dachte, er sei auf einer bestimmten Frequenz«, murmelte Leclerc ziemlich uninteressiert. »Es könnte sein, daß er mit dem falschen Kristall anfängt. In der Aufregung passiert das leicht. Für die Empfangsstation ist es am sichersten, wenn man auf alle Frequenzen achtet, für die er Kristalle mit hat.«
»Er muß jetzt schon unterwegs sein.«
»Wo ist Haldane?«
»Er schläft.«
»Wie kann jemand unter diesen Umständen schlafen?«
»Es wird bald Tag.«
»Können Sie nicht irgendwas mit diesem Ofen unternehmen?« fragte Leclerc. »Es ist doch wohl nicht notwendig, daß er so raucht.« Plötzlich schüttelte er den Kopf, als wolle er Wassertropfen abbeuteln, und sagte: »John, es gibt einen außerordentlich interessanten Bericht Fieldens. Über Truppenbewegungen in Budapest. Wenn Sie nach London zurücckommen, sollten Sie vielleicht...« Er verlor den Faden und runzelte die Stirn.
»Sie erwähnten es schon«, sagte Avery sanft.
»Ja, natürlich, jedenfalls sollten Sie mal einen Blick hineinwerfen.«
»Gerne. Klingt sehr interessant.«
»Ja, nicht wahr?«
»Sehr.«
»Wissen Sie«, sagte Leclerc, anscheinend noch immer in Erinnerungen versunken, »die wollen der unglücklichen Frau immer noch nicht die Pension auszahlen.«
Er hielt sich auf dem Motorrad sehr steif und hatte die Ellbogen an den Körper gelegt, als sitze er bei Tisch. Die Maschine machte schrecklichen Lärm, der die Morgendämmerung erfüllte, über die gefrorenen Felder hallte und die Hühner in ihren Ställen aus dem Schlaf schreckte. Der Mantel hatte lederne Schulterklappen. Seine Zipfel flatterten im Wind und schlugen mit knatterndem Geräusch gegen die Speichen des Hinterrades, während die Maschine über die Schlaglöcher holperte. Der Tag brach an. Er würde bald etwas essen müssen. Leiser verstand nicht, wieso er so hungrig war. Vielleicht kam es von der körperlichen Anstrengung. Ja, das mußte es sein. Er würde essen, aber nicht in einer Stadt, und noch nicht jetzt. Nicht in einem Cafe, in das fremde Menschen kamen. Nicht in einem Cafe, das der Junge besucht hatte.
Er fuhr weiter. Das Hungergefühl peinigte ihn. Er konnte an nichts anderes denken. Er drehte den Gashebel zurück und beugte seinen gierigen Körper vor. Er wendete in einen Feldweg und hielt. Das Haus war alt und vernachlässigt bis zum Zerfall. Der Weg zum Haus war von Karrenrädern aufgewühlt und von Gras überwachsen, der Zaun morsch. Es gab terrassenförmig angelegte Beete, auf denen das Unkraut wucherte, als könne man sie für keinen sinnvollen Zweck mehr verwenden.
Das Küchenfenster war erleuchtet. Leiser klopfte an die Tür. Seine Hand zitterte von der Fahrt auf dem Motorrad. Niemand kam. Er klopfte noch einmal, und das Geräusch erschreckte ihn. Er glaubte, ein Gesicht zu sehen. Es konnte der Schatten des Jungen sein, der gegen das Fenster sank, als er fiel, ebensogut aber konnte es die Spiegelung eines vom Wind bewegten Astes sein.
Er ging schnell zu dem Motorrad zurück. Entsetzt begriff er, daß sein Hunger gar kein Hunger war, sondern Einsamkeit. Er mußte sich irgendwo hinlegen und ausruhen. Er dachte: ich hatte ganz vergessen, wie sehr einen das mitnimmt. Er fuhr weiter, bis er in einen Wald kam. Dort legte er sich hin. Sein Gesicht preßte sich heiß in das Farnkraut. Es war Abend. Auf den Feldern war es noch hell. Aber in dem Wald, in dem er lag, breitete sich rasch die Dämmerung aus, so daß sich die roten Föhren plötzlich in schwarze Säulen verwandelten. Er klaubte sich die Blätter von seiner Jacke und schnürte die Schuhe zu. Sie drückten den Rist schmerzhaft. Er hatte keine Zeit gehabt, sie einzulaufen. Er ertappte sich bei dem Gedanken: denen kann's egal sein, und er erinnerte sich daran, daß nichts je die Kluft überbrückt, die zwischen dem Mann lag, der ging, und denen, die zurückblieben, zwischen den Lebenden und den Toten.
Es bereitete ihm Mühe, die Riemen des Rucksackes über die Schultern zu streifen, und dankbar fühlte er wieder den heißen Schmerz, als sie endlich auf ihren alten Stellen saßen. Nachdem er den Koffer aufgenommen hatte, ging er über den Acker zur Straße zurück, wo das Motorrad stand: noch fünf Kilometer bis Langdorn. Er nahm an, daß es hinter dem nächsten Hügel lag: die erste der drei Städte. Bald würde er auf die Straßensperre stoßen; bald würde er essen. Er fuhr langsam, den Koffer auf seinen Knien, während er auf die nasse Straße starrte und seine Augen anstrengte, um eine Kette roter Lichter zu sehen oder eine Ansammlung von Männern und Fahrzeugen. Nach einer Kurve sah er auf der linken Straßenseite ein Haus mit einer Bierreklame, die in einem Fenster aufgestellt war. Er fuhr in den Vorgarten. Das Motorengeräusch lockte einen alten Mann vor die Tür. Leiser bockte das Rad auf.
»Ich hätte gerne ein Bier«, sagte er, »und Wurst. Gibt's das hier?«
Er alte Mann ließ ihn eintreten und an einem Tisch im Gastzimmer Platz nehmen, von dem aus Leiser das Motorrad draußen im Auge behalten konnte. Er brachte ihm eine Flasche Bier, einige Scheiben Wurst auf einem Teller und ein Stück Schwarzbrot. Er blieb neben dem Tisch stehen und sah ihm beim Essen zu. »Wohin wollen Sie?« Sein mageres Gesicht war von Bartstoppeln bedeckt.
»Nach Norden.« Leiser kannte dieses Spiel.
»Woher sind Sie?«
»Wie heißt die nächste Ortschaft?«
»Langdorn.«
»Weit?«
»Fünf Kilometer.«
»Kann man dort übernachten?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. Die Bewegung drückte weder Gleichgültigkeit noch Verneinung aus, sondern einfach Ablehnung, als lehne er alles ab und werde von allem abgelehnt. »Wie ist die Straße?« fragte Leiser. »Ganz gut.«
»Angeblich soll eine Umleitung sein.«
»Keine Umleitung«, sagte der alte Mann, als bedeute eine Umleitung Hoffnung, Trost oder Gesellschaft, irgend etwas, das die kalte Feuchtigkeit erwärmen oder die Ecken des Raumes hätte erhellen können. »Sie sind aus dem Osten«, erklärte der alte Mann. »Man erkennt's an Ihrer Sprache.«