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»Hier irgendwo«, rief er nach vorne. »Ist schon recht.« Die Organisation war in einer verbauten, altersgrauen, düsteren Villa untergebracht. Es war eines jener Häuser, die einen Feuerlöscher auf dem Balkon haben und so aussehen, als warteten sie schon seit einer Ewigkeit auf einen Käufer. Avery hatte sich oft gefragt, warum das Ministerium eine Mauer um das Grundstück errichtet hatte. Vielleicht sollte es wie ein Friedhof vor den neugierigen Blicken der Leute geschützt werden - oder die Leute vor den Blicken der hier ruhenden Toten. Sicherlich war es nicht zum Schutz des Gartens, denn in ihm gab es nichts als eine Grasfläche, die so räudig war wie das Fell eines alten Straßenköters. Die dunkelgrün gestrichene Vordertür wurde nie geöffnet. Tagsüber passierten gelegentlich in der gleichen Farbe lackierte unauffällige Lieferwagen die Einfahrt, aber was immer sie hier zu tun hatten, es wurde im Hinterhof erledigt. Soweit die Nachbarn überhaupt davon sprachen, nannten sie es das Ministerialgebäude, und das war eine ungenaue Bezeichnung, denn die Organisation war eigenständig und nur dem Ministerium unterstellt. Es war unverkennbar vom langsamen Verfall gezeichnet, wie jedes Haus auf der ganzen Welt, in dem sich eine staatliche Dienststelle eingemietet hat. Für die Menschen, die in diesem Haus arbeiteten, war sein Geheimnis wie das Mysterium der Mutterschaft, und sie empfanden die Tatsache, daß es weiter stehen blieb, wie das Mysterium Englands. Es gab ihnen Geborgenheit und Schutz, vermittelte ihnen das Gefühl von Sicherheit und die süße, aber unzeitgemäße Illusion, daß es sie erhalte. Avery würde sich immer daran erinnern, wie der Nebel zufrieden um die Stuckfassade strich, oder wie die Sonne während des Sommers für kurze Zeit durch die Netzvorhänge in sein Zimmer lugte, ohne daß sie Wärme verbreitete oder Geheimnisse enthüllte. Und er würde sich immer an das Bild dieses Hauses erinnern, wie es jetzt mit schwarzer Fassade in der Dämmerung eines Wintertages dastand, während sich die Straßenlampen in den Regentropfen auf den schmutzigen Scheiben brachen.

Aber an welches Bild er sich auch erinnern würde - es wäre nie das Bild seines Arbeitsplatzes, sondern immer das eines Ortes, an dem er gelebt hatte. Er folgte dem Fußweg zur Rückseite des Gebäudes, wo er läutete und darauf wartete, daß Pine ihm öffnete. Das Fenster in Leclercs Zimmer war erleuchtet. Er zeigte Pine seinen Ausweis. Möglicherweise erinnerte das beide an den Krieg: für Avery ein nachempfundenes Vergnügen, während sich Pine auf eigene Erfahrungen stützen konnte. »Schöner Mond, Sir«, sagte Pine. »Ja.« Avery trat ins Haus. Pine folgte und schloß hinter ihm ab.

»Früher hätten die Jungs einen solchen Mond verflucht.«

»Das stimmt«, lachte Avery.

»Haben Sie von dem Spiel in Melbourne gehört? Bradley war wieder mal große Klasse.«

»Du meine Güte«, sagte Avery freundlich. Er konnte Cricket nicht ausstehen.

An der Eingangshalle schimmerte eine blaue Lampe wie das Nachtlicht in einem Krankenhaus. Avery stieg die Treppe hinauf. Ihm war kalt und er fühlte sich unbehaglich. Irgendwo läutete eine Glocke. Merkwürdig, daß Sarah das Telefon nicht gehört hatte. Leclerc wartete schon auf ihn. Er sagte: »Wir brauchen einen Mann.« Es klang, als stehe er unter Hypnose, wie ein Schlafwandler. Eine Lampe warf ihr Licht auf die vor ihm liegende Akte. Er war schlank, glatt, klein und sehr geschmeidig; eine penible Katze von Mann, gut rasiert, gepflegt. Er trug nur steife Kragen mit runden Ecken und einfarbige Krawatten. Seine Augen waren dunkel und flink; beim Sprechen lächelte er, aber sein Lächeln hatte nichts Fröhliches. Seine Sakkos waren an den Seiten geschlitzt, und sein Taschentuch steckte im Ärmel. An Freitagen trug er Wildlederschuhe; man nahm an, daß er übers Wochenende aufs Land hinausfuhr. Niemand schien zu wissen, wo er wohnte. Der Raum lag im Halbdunkel.

»Wir können keine weitere Überfliegung mehr durchführen. Das war die letzte; sie haben mich im Ministerium darauf aufmerksam gemacht. Wir werden einen Mann hineinschicken müssen. Ich habe die alten Karteien durchgesehen, John. Darunter ist ein gewisser Leiser, ein Pole. Er wäre der richtige.«

»Was ist Taylor zugestoßen? Wer hat ihn getötet?« Avery ging zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Sie sahen einander verlegen an. »Pardon. Ich bin noch nicht ganz wach«, sagte Avery. Dann fanden sie den Faden wieder und kamen zum Thema zurück.

Leclerc sagte geradeheraus: »Sie haben lange gebraucht, John. Hat es zu Hause irgendwas gegeben?« Autorität war ihm nicht angeboren. »Ich konnte kein Taxi bekommen. Ich habe den Standplatz in Clapham angerufen, aber dort hat niemand abgehoben. Auch an der Albert Bridge war nichts.« Er haßte es, Leclerc zu enttäuschen. »Sie können es verrechnen«, sagte Leclerc reserviert. »Auch die Telefongespräche. Alles in Ordnung mit Ihrer Frau?«

»Ich sagte doch, daß niemand geantwortet hat. - Es geht ihr gut.«

»Hat sie nichts dagegen gehabt?«

»Natürlich nicht.«

Sie sprachen nie über Sarah. Es war, als stünden sie beide in der gleichen Beziehung zu Averys Frau, wie Kinder, die sich ein Spielzeug zu teilen vermögen, für das sie nichts mehr übrig haben. »Sie hat ja Ihren Sohn, der ihr Gesellschaft leistet«, sagte Leclerc. »Ja, sicher.«

Leclerc war stolz darauf zu wissen, daß es ein Sohn und nicht eine Tochter war.

Er nahm eine Zigarette aus der Silberdose auf seinem Schreibtisch. Er hatte Avery einmal erzählt, daß sie ein Erinnerungsgeschenk aus dem Kriege war. Der Mann, der sie ihm geschenkt hatte, war tot, und der Anlaß für das Geschenk vorüber. Der Deckel trug keine Inschrift. Er wisse heute noch nicht genau, auf welcher Seite der Mann eigentlich gestanden habe - eine Bemerkung, über die Avery bereitwillig lachte, um ihn glücklich zu machen.

Leclerc nahm die Akte von seinem Schreibtisch und hielt sie direkt unter das Licht, als gäbe es etwas, das er sehr eingehend betrachten müsse. »John!«

Avery ging zu ihm hin; er bemühte sich, Leclercs Schulter nicht zu berühren.

»Was sagt Ihnen ein Gesicht wie dieses?«

»Ich weiß nicht. Auf Grund von Fotos kann man nur schwer etwas sagen.«

Es war der runde, ausdruckslose Kopf eines blonden Jungen mit langem zurückgekämmtem Haar. »Das ist Leiser. Aussehen tut er ordentlich, nicht wahr? Das Foto ist natürlich zwanzig Jahre alt«, sagte Leclerc. »Wir haben ihn sehr hoch eingestuft.« Widerstrebend legte er es nieder, ließ sein Feuerzeug schnippen und hielt die Flamme an seine Zigarette. »Auf jeden Fall scheinen wir da auf etwas gestoßen zu sein«, sagte er munter. »Ich habe keine Ahnung, was Taylor eigentlich passiert ist. Wir haben nur den Routinebericht vom Konsulat bekommen, das ist alles. Es sieht aus wie ein Autounfall. Ein paar Einzelheiten, die wenig besagen. Eben der Wisch, wie man ihn normalerweise den Angehörigen schickt. Das Auswärtige Amt schickte uns das Fernschreiben so, wie es ihnen durchgegeben wurde. Man wußte, daß es einer unserer Pässe war.« Er schob ein Blatt dünnen Papiers über den Schreibtisch. Er liebte es sehr, hinter dem Schreibtisch zu sitzen und darauf zu warten, daß seine Gesprächspartner ein Schriftstück zu Ende lasen, das er ihnen zugeschoben hatte. Avery warf einen Blick darauf.