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»Meine Eltern«, sagte Leiser. »Gibt's Kaffee?« Der alte Mann brachte Kaffee, sehr schwarz und säuerlich, ohne Aroma.

»Sie sind aus Wilmsdorf«, sagte der alte Mann. »Ihr Nummernschild ist aus Wilmsdorf.«

»Viele Gäste?« fragte Leiser und sah zur Tür.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Ist keine sehr befahrene Straße, nicht?« Der alte Mann sagte immer noch nichts. »Ich hab' einen Freund in Kalkstadt. Ist das noch weit?«

»Nicht weit. Vierzig Kilometer. Bei Wilmsdorf ist ein Junge umgebracht worden.«

»Er führt ein Lokal an der Nordausfahrt, >Dorfkrug<, kennen Sie es?«

»Nein.«

Leiser senkte seine Stimme. »Es gab Ärger bei ihnen. Eine Prügelei, Soldaten aus der Stadt, Russen.«

»Gehen Sie weg«, sagte der alte Mann. Er wollte zahlen, hatte aber nur einen Fünfzigmarkschein.

»Gehen Sie weg«, sagte der Alte wieder.

Leiser nahm Rucksack und Koffer. »Alter Narr«, sagte er böse, »was glauben Sie, wer ich bin?«

»Sie sind entweder gut oder schlecht - und beides ist gefährlich. Gehen Sie.«

Es gab keine Straßensperre. Unversehens war er mitten in Langdorn. Es war schon finster. Das einzige Licht auf der Straße war der schwache Schein, der sich hinter den geschlossenen Fensterläden hervorstahl und kaum bis aufs nasse Pflaster fiel. Kein Verkehr auf der Straße. Der Lärm seines Motorrades beunruhigte ihn, es klang wie ein Fanfarenstoß über den Marktplatz. Leiser dachte, im Krieg gingen sie immer früh zu Bett, um sich warm zu halten. Vielleicht hatte sich das nicht geändert.

Es war Zeit, das Motorrad loszuwerden. Er fuhr durch die Stadt hindurch und fand am anderen Ende eine unbenutzte Kirche, wo er das Rad neben der Sakristeitür stehenließ. Er ging in die Stadt zurück, zum Bahnhof. Der Beamte war in Uniform. »Kalkstadt. Einfach.«

Der Beamte streckte die Hand aus. Leiser nahm einen Geldschein heraus und gab ihn ihm. Der Beamte schüttelte ihn ungeduldig. Einen Augenblick starrte Leiser ratlos auf die vor ihm herumfuchtelnde Hand und das ärgerliche, mißtrauische Gesicht hinter dem Schalterfenster.

Plötzlich schnauzte der Beamte: »Personalausweis!« Leiser lächelte um Verzeihung bittend. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte er und öffnete die Brieftasche, um die Karte in ihrem Zellophanfenster zu zeigen.

»Nehmen Sie sie heraus«, sagte der Beamte, und Leiser sah ihm dabei zu, wie er den Ausweis unter dem Licht seiner Schreibtischlampe prüfend betrachtete.

»Reisegenehmigung?«

»Ja, natürlich«, Leiser gab ihm das Papier.

»Warum fahren Sie nach Kalkstadt, wenn Sie nach Rostock reisen?«

»Unser Betrieb hat Maschinen per Bahn nach Kalkstadt geliefert. Schwere Turbinen und Werkzeugmaschinen. Müssen montiert werden.«

»Wie sind Sie bis hierher gekommen?«

»Jemand hat mich mitgenommen.«

»Das Mitnehmen von Anhaltern ist verboten.«

»In diesen Zeiten muß man sehen, wie man vorankommt.«

»In diesen Zeiten?«

Der Mann preßte seine Nase gegen die Scheibe und blickte auf Leisers Hände hinunter. »Mit was spielen Sie da unten herum?« fragte er grob. »Eine Kette. Meine Schlüsselkette.«

»So. Also die Maschinen müssen montiert werden, wie? Und weiter?«

»Ich kann das unterwegs erledigen. Die warten in Kalkstadt schon sechs Wochen. Der Transport hat so lange gedauert.«

»So?«

»Wir haben nachgeforscht, bei der Eisenbahn.«

»Und?«

»Keine Antwort.«

»Sie müssen eine Stunde warten. Der Zug geht um halb sieben.« Pause. »Haben Sie's schon gehört? Bei Wilmsdorf haben sie einen Jungen umgebracht«, sagte er. »Schweine.« Er gab das Wechselgeld herüber. Leiser wußte nicht, was er tun sollte. Er wagte es nicht, sein Gepäck in die Aufbewahrung zu geben. Er konnte nichts anderes tun, als eine halbe Stunde umherzulaufen, dann kehrte er zum Bahnhof zurück. Der Zug hatte Verspätung.

»Ihnen beiden gebührt große Anerkennung«, sagte Leclerc mit einem dankbaren Nicken in Richtung von Haldane und Avery. »Auch Ihnen, Johnson. Von jetzt an gibt es nichts, was irgendeiner von uns noch dazu beitragen könnte. Alles hängt jetzt von Mayfly ab.«

Avery bekam ein Extralächeln: »Was ist mit Ihnen, John? Sie sind so still. Glauben Sie, daß Sie wertvolle Erfahrungen haben sammeln können?« Und mit einem Lachen, das für die beiden anderen bestimmt war, sagte er: »Ich hoffe wirklich, daß wir nicht plötzlich eine Scheidung auf dem Gewissen haben. Wir müssen Sie jetzt so schnell als möglich zu Ihrer Frau nach Hause schicken.«

Er saß auf der Tischkante und hatte seine Hände über dem Knie gefaltet. Als Avery nichts sagte, erklärte er strahlend: »Ich habe einen Vermerk von Carol bekommen- - du weißt es, Adrian -, daß ich die junge Ehe zerstöre.«

Haldane lächelte, als sei das eine erheiternde Bemerkung. »Ich bin sicher, daß diese Gefahr nicht besteht«, sagte er.

»Er hat ja auch bei Smiley großen Eindruck gemacht: wir müssen aufpassen, daß sie ihn uns nicht wegschnappen!«

19. Kapitel

Als der Zug in Kalkstadt hielt, wartete Leiser, bis die anderen Reisenden den Bahnsteig verlassen hatten. Ein älterer Beamter sammelte die Fahrkarten ein. Er sah freundlich aus.

»Ich suche nach einem Freund«, sagte Leiser, »einen Mann namens Pritsche. Er hat hier gearbeitet.«

Der Beamte runzelte die Stirn.

»Pritsche?«

»Ja.«

»Wie ist sein Vorname?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie alt ist er denn? Wenigstens ungefähr?« Leiser sagte auf gut Glück: »Vierzig.«

»Pritsche, hier, auf diesem Bahnhof?«

»Ja. Er wohnte in einem kleinen Haus unten am Fluß.

Junggeselle.«

»Allein in einem ganzen Haus? Und soll hier gearbeitet haben?«

»Ja.«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nie von ihm gehört.« Er sah Leiser zweifelnd an. »Sind Sie sicher?« fragte er.

»Das hat er mir jedenfalls erzählt.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Im November hat er mir geschrieben... er beschwerte sich darüber, daß Vopos den Bahnhof geschlossen hätten.«

»Sie sind ja verrückt«, sagte der Beamte. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, erwiderte Leiser. Die ganze Zeit, während er davonging, spürte er den starren Blick des Mannes in seinem Rücken.

In der Hauptstraße gab es einen Gasthof. Er hieß >Alte Glocke<. Er wartete eine Zeitlang an der Theke im Gastzimmer, aber niemand kam. Er öffnete eine Tür und stand in einem großen, halbdunklen Raum. An einem Tisch saß ein Mädchen vor einem alten Grammophon. Sie saß zusammengesunken da, hatte den Kopf in die Arme gelegt und lauschte der Musik. Über ihr brannte eine einzelne Birne. Als die Platte zu Ende war, setzte sie, ohne den Kopf zu heben, die Nadel wieder an den Anfang.

»Ich brauche ein Zimmer«, sagte Leiser. »Ich bin gerade aus Langdorn angekommen.« Überall in dem Raum hingen ausgestopfte Vögeclass="underline" Reiher, Fasanen und ein Eisvogel. »Ich suche ein Zimmer«, wiederholte er. Es war Tanzmusik, eine sehr alte Platte.

»Fragen Sie an der Theke.«

»Es ist niemand da.«

»Es gibt sowieso nichts. Die dürfen Sie hier gar nicht wohnen lassen. Neben der Kirche ist eine Herberge. Sie müssen dort wohnen.«

»Wo ist die Kirche?«

Sie stellte mit einem übertriebenen Seufzer das Grammophon ab, und Leiser wußte, daß sie froh war, mit jemandem reden zu können.

»Sie ist zerbombt«, erklärte sie. »Wir sprechen nur noch von ihr. Bloß der Turm steht noch.«

Schließlich sagte er: »Die haben sicher ein Bett hier.

Es ist doch ein großes Haus.« Er stellte den Rucksack in eine Ecke und setzte sich neben sie an den Tisch.

Mit der Hand fuhr er sich durch das dichte, trockene Haar.

»Sie sehen ganz erledigt aus«, sagte das Mädchen. Seine blauen Hosen waren noch vom Lehm an der Grenze verkrustet. »War den ganzen Tag unterwegs. Das nimmt einen mit.«