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Sie stand befangen auf und ging bis ans Ende des Raumes, wo eine hölzerne Stiege zu einem schwachen Lichtschimmer hinaufführte. Sie rief, aber niemand kam.

»Steinhäger?« fragte sie aus der Dunkelheit. »Ja.«

Sie kam mit einer Flasche und einem Glas zurück. Sie trug einen alten braunen Militärregenmantel mit Schulterstücken und eckigen Schultern. »Woher sind Sie?« fragte sie.

»Magdeburg. Ich fahre nach Norden. Habe in Rostock eine Stelle bekommen.«

Wie oft würde er das noch sagen? »In dieser Herberge - kann ich da ein Einzelzimmer haben?«

»Wenn Sie eins wollen.«

Die Beleuchtung war so schwach, daß er sie zuerst kaum erkennen konnte. Nach und nach nahm sie Gestalt an. Sie war ungefähr achtzehn und grobknochig.

Ein ganz hübsches Gesicht, aber eine sehr unreine Haut. So alt wie der Junge an der Grenze, ein bißchen älter vielleicht.

»Wer sind Sie«, fragte er. Sie antwortete nicht. »Was machen Sie?«

Sie nahm sein Glas, trank daraus und sah ihn altklug über den Rand des Glases hinweg an. Sie schien sich für eine große Schönheit zu halten. Dann stellte sie das Glas langsam auf den Tisch zurück, während sie ihn weiter ansah und sich das Haar aus dem Gesicht strich. Auch von dieser Geste schien sie viel zu halten. »Schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Was machen Sie?«

»Was Sie wollen.« Ihre Stimme war ganz ernst.

»Viel los hier?«

»Ach - völlig tot. Nichts.«

»Keine Jungs?«

»Manchmal.«

»Soldaten?« - Eine Pause.

»Ab und zu. Wissen Sie nicht, daß diese Frage verboten ist?«

Leiser goß sich noch einen Steinhäger aus der Flasche ein.

Sie nahm sein Glas, wobei sie mit seinen Fingern spielte.

»Was ist mit dieser Stadt los?« fragte er. »Ich habe schon vor sechs Wochen versucht, herzukommen. Man ließ mich nicht herein. Kalkstadt, Langdorn, Wolken - alles gesperrt, sagten sie. Was war los?« Ihre Fingerspitzen strichen über seine Hand. »Was ging hier vor?« wiederholte er. »Nichts war gesperrt.«

»Mach halblang«, sagte Leiser. »Sie wollten mich nicht mal in die Nähe lassen, ich schwör dir's. Sperren hier und auf der Straße nach Wolken.« Er dachte:

schon zwanzig nach acht, nur noch zwei Stunden bis zu meinem ersten Funkkontakt. »Nichts war gesperrt.« Plötzlich setzte sie hinzu: »Du kommst also von Westen, auf der Straße. Nach so jemandem suchen sie hier gerade.« Er stand auf. »Ich muß mich nach dieser Herberge umsehen.« Er legte Geld auf den Tisch. Das Mädchen flüsterte: »Ich hab' mein eigenes Zimmer. Der Neubau hinterm Friedensplatz. Es sind Arbeiterwohnungen. Sie haben nichts dagegen, dort. Ich mach', was du willst.«

Leiser schüttelte den Kopf. Er nahm sein Gepäck und ging zur Tür. Sie sah ihn noch immer an, und er wußte, daß sie mißtrauisch war. »Wiedersehen«, sagte er. »Ich würde auch nichts sagen. Nimm mich mit.«

»Ich trank einen Steinhäger«, murmelte Leiser. »Wir haben kein Wort miteinander geredet. Du hast die ganze Zeit deine Platten gespielt.« Sie hatten beide Angst.

Das Mädchen sagte: »Ja. Die ganze Zeit Platten.«

»Es war nie gesperrt, bist du ganz sicher? Langdorn, Wolken, Kalkstadt, vor sechs Wochen?«

»Wozu sollte irgend jemand hier Sperren errichten?«

»Nicht mal der Bahnhof?«

Sie sagte schnelclass="underline" »Vom Bahnhof weiß ich nichts. Im November war das Gebiet einmal für drei Tage gesperrt. Niemand hat eine Ahnung, warum, 'ne russische Einheit war da, ungefähr fünfzig Mann. Sie lagen hier in der Stadt. Mitte November.«

»Fünfzig? Panzer, oder was?«

»Mit Lastwagen. Weiter im Norden waren Manöver. Bleib bei mir heute nacht. Bleib. Nimm mich mit. Ich geh' überall hin.«

»Welche Farbe hatten die Schulterklappen?«

»Weiß nicht.«

»Woher kamen sie?«

»Sie waren neu. Ein paar waren aus Leningrad, zwei Brüder.«

»Wohin gingen sie von hier?«

»Norden. Hör zu, niemand wird etwas davon erfahren. Ich rede nicht. Zu der Sorte gehöre ich nicht. Ich mach' dir alles, alles, was du willst.«

»In Richtung Rostock?«

»Sie sagten, daß sie nach Rostock gehen. Wir sollen nicht darüber sprechen. Die Parteileute waren deshalb in jedem Haus.«

Leiser nickte. Er schwitzte. »Wiedersehen«, sagte er. »Wie ist es mit morgen? Morgen abend? Ich mach', was du willst.«

»Vielleicht. Sag es niemandem. Verstehst du?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich werd's ihnen nicht sagen. Mir ist das doch egal. Frag nur nach dem Hochhaus hinterm Friedensplatz. Tür neunzehn. Kannst jederzeit kommen. Ich mach selbst auf. Wenn du zweimal läutest, weiß ich, daß es für mich ist. Brauchst nichts zu bezahlen.« Dann sagte sie: »Gib acht auf dich. Überall sind Leute. In Wilmsdorf ist ein Junge umgebracht worden.«

Er ging zum Marktplatz, nun wieder vorsichtig, denn er fühlte sich von allen Seiten bedroht, suchte den Kirchturm und die Herberge. In der Dunkelheit huschten vermummte Gestalten an ihm vorbei. Manche trugen noch alte Uniformstücke, Feldmützen oder die langen Mäntel, die sie im Krieg gehabt hatten. Ab und zu, wenn er gerade unter einer der matten Straßenlaternen vorbeikam, versuchte er einen Blick in ihre Gesichter zu werfen, und dann forschte er in diesen verschlossenen, ausdruckslosen Mienen nach dem, was er haßte. Er sagte sich: »Hasse diesen Kerl - er ist alt genug.« Aber es berührte ihn nicht. Sie waren nichts. In einer anderen Stadt, an einem anderen Ort hätte er vielleicht jemanden für seinen Haß finden können. Hier nicht. Diese Leute hier waren alt und nichts weiter. Arm und allein wie er selbst. Der Kirchturm war schwarz und leer. Er erinnerte ihn plötzlich an den Turm an der Grenze, an die Garage nach elf Uhr abends, an den Augenblick, als er den Posten tötete: ein Kind noch, wie er selbst es im Krieg gewesen war, jünger sogar noch als Avery. »Jetzt sollte er eigentlich schon dort sein«, sagte Avery.

»Ganz richtig, John. Er sollte wohl schon dort sein, nicht wahr? Nur noch eine Stunde. Noch ein Fluß zu überqueren.« Er begann zu singen, aber niemand fiel ein.

Schweigend saßen sie einander gegenüber. »Kennen Sie übrigens den Alias-Club?« fragte Johnson plötzlich. »Bei der Villiers Street? Vom alten Haufen kommen ziemlich viele dort hin. Sollten einmal am Abend mitkommen, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Danke«, sagte Avery. »Mach ich gerne.«

»In der Weihnachtszeit ist es dort sehr nett«, sagte Johnson. »Das ist die Zeit, in der ich oft dort bin. Ein netter Verein. Ein oder zwei kommen sogar in Uniform.«

»Klingt sehr nett.«

»Silvester machen sie eine Party mit Damen. Sie könnten Ihre Frau mitbringen.«

»Prima.«

Johnson zwinkerte. »Oder Ihre Freundin.«

»Für mich gibt's nur Sarah«, sagte Avery. Das Telefon läutete. Leclerc stand auf, um abzuheben.

 

20. Kapitel

 

HEIMKEHR

Er stellte Rucksack und Koffer ab und inspizierte das Zimmer. Neben dem Fenster war eine elektrische Steckdose. Die Tür hatte kein Schloß, deshalb stellte er den Lehnstuhl davor. Er zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Er dachte an die Finger des Mädchens, die über seine Hände strichen und an das nervöse Zittern ihrer Lippen. Dann fiel ihm der trügerische Blick ein, mit dem sie ihn aus dem Dunkel heraus beobachtet hatte, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihn verriet. Avery fiel ihm ein: die menschliche Wärme und typisch englische Anständigkeit am Beginn ihrer Kameradschaft. Er sah wieder sein junges, im Regen glänzendes Gesicht vor sich und den scheuen, verwirrten Ausdruck Averys, als er seine Brille abwischte, und er dachte: sicher hat er nie etwas anderes als zweiunddreißig gesagt. Ich habe mich verhört. Er sah zur Decke. In einer Stunde würde er die Antenne spannen.