»Ich verstehe.«
Sie warteten schweigend. Plötzlich - für sie alle ein Augenblick höchster Verzauberung - straffte sich Johnsons Körper, er nickte ihnen kurz zu und schaltete das Tonbandgerät ein. Er lächelte und legte den Schalter am Sender um. Er klopfte auf seine Morsetaste. »Komm nur, Fred«, sagte er laut, »höre dich gut.«
»Er hat's geschafft!« zischte Leclerc. »Jetzt ist er dran am Ziel.« Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Hören Sie, John? Hören Sie das?«
»Wollen wir nicht still sein?« schlug Haldane vor. »Da kommt er schon«, sagte Johnson. Seine Stimme war ruhig und beherrscht. »Zweiundvierzig Gruppen.«
»Zweiundvierzig!« wiederholte Leclerc. Johnsons Körper war bewegungslos. Sein Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, seine ganze Konzentration galt den Kopfhörern. Sein Gesicht war in dem bleichen Licht der Skalenbeleuchtung ohne jeden Ausdruck.
»Ich bitte um Ruhe, jetzt.«
Ungefähr zwei Minuten lang huschte seine geschickte Hand über den Block. Ab und zu murmelte er unhörbar, flüsterte einen Buchstaben oder schüttelte den Kopf, bis die Morsezeichen langsamer zu kommen schienen und sein Bleistift - während er lauschend wartete - zwischen den einzelnen Zeichen stillhielt, bis er jeden einzelnen Buchstaben mit quälender Sorgfalt aufs Papier malte. Er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr.
»Los, Fred«, drängte er, »los, geh auf die andere Frequenz. Das sind schon fast drei Minuten.« Aber die Meldung tröpfelte weiter, Buchstabe für Buchstabe, und Johnsons einfaches Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.
»Was ist los?« fragte Leclerc. »Warum hat er die Frequenz nicht gewechselt?«
Aber Johnson sagte nur: »Schalt ab, Fred, um Himmels willen, schalt ab!«
Leclerc klopfte ihm ungeduldig auf den Arm. Johnson hob eine der Muscheln vom Ohr.
»Warum hat er die Frequenz nicht gewechselt? Warum spricht er noch immer?«
»Er muß es vergessen haben! Im Training hat er's nie vergessen. Ich weiß ja, daß er langsam ist, aber guter Gott!« Er schrieb noch immer automatisch mit. »Fünf Minuten«, murmelte er. »Fünf beschissene Minuten. Tausch endlich den beschissenen Kristall aus.«
»Können Sie es ihm nicht sagen?« rief Leclerc. »Natürlich kann ich nicht! Wie soll ich das? Er kann doch nicht gleichzeitig empfangen und senden!« Sie saßen oder standen wie hypnotisiert herum. Johnson, der sich zu ihnen umgewandt hatte, sagte flehentlich: »Ich hab's ihm gesagt! Ich hab's ihm nicht einmal, ich hab's ihm Dutzende Male gesagt. Es ist der reinste Selbstmord, was er da macht!« Er sah auf seine Uhr. »Jetzt sendet er schon fast an die sechs Minuten. Verdammter, verdammter, verdammter Narr!«
»Was werden sie tun?« fragte Haldane. »Wenn sie die Sendung auffangen? - Eine zweite Abhörstation anrufen, ihn anpeilen, der Rest ist einfachste Trigonometrie, wenn jemand so lange am Äther bleibt.« Er schlug mit der flachen Hand hilflos auf den Tisch und zeigte auf das Gerät, als sei es eine Beleidigung. »Ein Kind kann das erledigen. Mit nichts als zwei Kompassen. Großer Gott! Wach auf, Fred, um Gottes willen, wach endlich auf!« Er schrieb noch eine Handvoll Buchstaben auf, und warf dann den Bleistift hin. »Es ist sowieso auf Band«, sagte er. Leclerc wandte sich an Haldane. »Sicher gibt's doch etwas, was wir unternehmen könnten«, sagte er. »Sei still«, sagte Haldane.
Die Meldung brach ab. Johnson klopfte die Bestätigung, schnell und haßerfüllt. Er spulte das Tonband zurück und begann die Morsezeichen zu übertragen. Nachdem er die Kode-Tabelle vor sich hingelegt hatte, arbeitete er rund eine Viertelstunde ohne Unterbrechung. Gelegentlich warf er einfache Additionen auf das Schmierblatt neben seinem Arm. Niemand sprach. Als er fertig war, stand er in einer fast schon vergessenen Geste des Respekts vor Leclerc auf. »Meldung lautet: Gebiet Kalkstadt Mitte November drei Tage gesperrt, als fünfzig nicht identifizierte Sowjetsoldaten in der Stadt waren. Ohne Spezialausrüstung. Gerüchte von Sowjetmanövern im Norden. Einheit angeblich nach Rostock verlegt. Pritsche in Kalkstadt Bahnhof nicht wiederhole nicht bekannt. Keine Sperren auf Straße nach Kalkstadt.« Er warf das Blatt auf den Tisch. »Danach kommen noch fünfzehn Gruppen, die ich nicht entziffern kann. Wahrscheinlich hat er seinen Kode durcheinandergebracht.« Der Unteroffizier der Volkspolizei in Rostock nahm den Telefonhörer auf. Er war ein älterer Mann mit grau werdendem Haar und gedankenvollem Gesicht. Er lauschte einige Zeit der aus dem Hörer dringenden Stimme und begann dann, auf einem anderen Apparat eine Nummer zu wählen. »Das muß ein Kind sein«, sagte er, während er die Wählscheibe drehte. »Was für eine Frequenz, sagten Sie?« Er hob den zweiten Hörer an sein Ohr und sprach schnell ein paar Sätze hinein, wobei er die Frequenz dreimal wiederholte. Dann ging er in die angrenzende Baracke hinüber. »Wismar wird jeden Augenblick durchkommen«, sagte er. »Sie machen schon eine Peilung. Hören Sie ihn noch?« Der Feldwebel nickte. Der Unteroffizier drückte einen freien Hörer ans Ohr.
»Das kann kein Amateur sein«, murmelte er. »Verletzt die Vorschrift. Aber was dann? Kein Agent morst auf diese Art, wenn er seine fünf Sinne beisammen hat. Welche Frequenzen liegen daneben? Militär oder Zivil?«
»Es ist nahe bei Militär. Sehr nahe.«
»Komisch«, sagte der Unteroffizier, »das paßt eigentlich dazu, was? Genauso haben sie's im Krieg gemacht.«
Der Feldwebel starrte auf das Tonbandgerät, dessen Spulen sich träge um ihre Achsen drehten. »Er sendet immer noch. Vierergruppen.«
»Vierer?« Der Unteroffizier suchte in seiner. Erinnerung nach irgend etwas, das sich vor langer, langer Zeit zugetragen hatte.
»Lassen Sie mich mal hören. Hören Sie doch, hören Sie sich diesen Narren an! Er ist so langsam wie ein Anfänger.«
Das piepsende Geräusch schlug irgendeine Seite in seinem Gedächtnis an. Diese verwischten Pausen, die Punkte so knapp, daß sie nicht viel mehr als Klick waren. Er hätte schwören können, daß er diese Hand kannte... aus dem Krieg, in Norwegen... aber nicht so langsam: niemand hatte je so langsam gesendet wie dieser da.
Nicht Norwegen. Frankreich. Vielleicht war es nur Einbildung. Ja, sicher war es Einbildung.
»Oder ein alter Mann«, sagte der Feldwebel.
Das Telefon läutete. Der Unteroffizier lauschte einen Augenblick und rannte dann, rannte, so schnell er konnte, durch die Baracke zum Ausgang und über den asphaltierten Weg in die Offiziersmesse hinüber.
Der russische Hauptmann trank gerade Bier. Seine Jacke hing über der Lehne seines Stuhles und er sah sehr gelangweilt aus.
»Sie wollen etwas, Unteroffizier?« Er gab sich gerne so angeödet.
»Er ist gekommen. Der Mann, über den man uns informiert hat. Der den Jungen umgelegt hat.« Der Hauptmann stellte schnell sein Bierglas nieder. »Haben Sie ihn gehört?«
»Wir haben eine Peilung. Mit Wismar. Vierergruppen. Sehr langsame Hand. Kommt aus der Kalkstadt-Gegend. Liegt nahe bei einer unserer eigenen Frequenzen. Sommer hat die Meldung mitgeschnitten.«
»Du lieber Gott«, sagte der Russe ruhig. Der Unteroffizier runzelte die Stirn.
»Was sucht er dort? Wozu sollten sie ihn dorthin geschickt haben?« fragte er.
Der Hauptmann knöpfte schon seine Jacke zu. »Fragen Sie in Leipzig an. Vielleicht wissen die auch darauf eine Antwort.«
21. Kapitel
Es war sehr spät.
Das Feuer im Kamin brannte recht gut, aber Control stocherte dennoch mit weibischer Unzufriedenheit darin herum. Er haßte es, nachts zu arbeiten. »Man will Sie jetzt im Ministerium sprechen«, sagte er gereizt. »Ausgerechnet jetzt, mitten in der Nacht. Es ist wirklich zu dumm! Warum regen sich alle gerade an einem Donnerstag so auf? Das ganze Wochenende ist sicher wieder hin.« Er legte den Schürhaken aus der Hand und ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Die sind dort in einer fürchterlichen Verfassung. Irgendein Idiot spricht von einem Stein, der Kreise zieht. Es ist erstaunlich, wie die Nacht manche Leute verändert. Wirklich, ich verabscheue das Telefon.« Auf dem Tisch vor ihm standen etliche Apparate. Smiley bot ihm eine Zigarette an, und er nahm sie ohne hinzusehen, als könne man ihn nicht mehr für die Handlungen seines Körpers verantwortlich machen. »Welches Ministerium?« fragte Smiley. »Leclercs. Haben Sie eine Ahnung, was da los ist?« Smiley sagte: »Ja. Sie nicht?«