»Leclerc ist so entsetzlich gewöhnlich. Ja, ich muß gestehen, daß ich ihn gewöhnlich finde. Er glaubt, wir lägen in Konkurrenz. Was, zum Teufel, sollte ich schon mit seinem schrecklichen Volkssturmhaufen anfangen wollen? Europa nach fahrenden Wäschereien durchkämmen? Er bildet sich ein, ich wolle ihn auffressen.«
»Wollen Sie das denn nicht? Warum sonst haben wir diesen Paß für ungültig erklärt?«
»Was für ein dummer gewöhnlicher Mensch. Wie konnte Haldane nur auf so etwas reinfallen?«
»Er hat einmal ein Gewissen gehabt. Er ist wie wir alle. Er hat gelernt, ohne eines zu leben.«
»Ach, mein Guter! Ist das ein Seitenhieb auf mich?«
»Was will das Ministerium?« fragte Smiley scharf. Control hielt einige Blatt Papier hoch und wedelte damit herum. »Haben Sie das hier aus Berlin gesehen?«
»Ja. Kam vor einer Stunde herein: Die Amerikaner haben eine Peilung. Vierergruppen, primitiver Buchstaben-Kode. Sie sagen, es komme aus der Gegend von Kalkstadt.«
»Wo, zum Teufel, ist das wieder?«
»Südlich von Rostock. Die Meldung lief sechs Minuten auf derselben Frequenz. Sie sagten, es habe geklungen wie der erste Versuch eines Amateurs. Es müsse eines der alten Geräte aus dem Krieg sein. Sie wollten wissen, ob es eines von den unseren war.«
»Und Ihre Antwort?« fragte Control schnell. »Ich sagte nein.«
»Das möchte ich hoffen. Guter Gott.«
»Es scheint Ihnen nicht viel auszumachen«, sagte Smiley. Control schien sich an etwas weit Zurückliegendes zu erinnern. »Ich höre, daß Leclerc in Lübeck ist. Also, das ist wirklich ein hübsches Städtchen. Ich schwärme für Lübeck. Das Ministerium wollte Sie sofort sprechen. Ich sagte, Sie würden hinkommen. Es ist irgendeine Besprechung.« Und mit großem Ernst fügte er hinzu: »Sie müssen, George! Wir waren die größten Dummköpfe. In jeder ostdeutschen Zeitung steht's schon. Sie regen sich mächtig wegen Friedenskonferenzen und Sabotage auf.« Er klopfte auf eines der Telefone. »Und das Ministerium ebenfalls. Gott, wie verabscheue ich diese Beamten.« Smiley beobachtete ihn voller Skepsis. »Wir hätten sie ja bremsen können. Genug gewußt haben wir.«
»Natürlich hätten wir können«, sagte Control sanft. »Wissen Sie, weshalb wir nicht haben? Pure, idiotische christliche Nächstenliebe. Wir wollten ihnen ihr Kriegsspiel nicht verderben. Aber jetzt gehen Sie lieber. - Und, Smiley...«
»Ja?«
»Seien Sie liebenswürdig.« Und mit seiner einfältigen Stimme setzte er hinzu: »Um Lübeck beneide ich die Leute trotz allem sehr. Gibt's da nicht dieses Restaurant - wie heißt es doch? Der Platz, wo Thomas Mann immer aß. Es ist so interessant!«
»Er hat nie dort gegessen«, sagte Smiley. »Das Lokal, das Sie meinen, ist im Krieg zerbombt worden.« Er ging noch immer nicht. »Ich frage mich«, sagte er. »Sie werden es mir niemals verraten, nicht wahr? Ich frage mich nur.« Er sah Control nicht an. »Mein lieber George, was ist denn jetzt über Sie gekommen?«
»Wir haben diese Leute doch hineingejagt. Der Paß, der dann eingezogen wurde. die Hilfe unseres Kurierdienstes, die sie nie gebraucht haben. ein ausrangiertes Funkgerät. falsche Papiere, Berichte über die Grenze. wer hat Berlin aufgefordert, den Abhördienst auf ihn anzusetzen? Wer hat ihnen die Frequenzen durchgesagt? Wir haben Leclerc sogar die Kristalle gegeben, oder nicht? War das auch christliche Nächstenliebe? Pure, idiotische christliche Nächstenliebe?«
Control war schockiert.
»Was wollen Sie damit bitte andeuten? Nein, wie abscheulich! Wer könnte so etwas jemals tun!« Smiley zog seinen Mantel an.
»Gute Nacht, George«, sagte Control. Und bitter, als sei er der Feinfühligkeit überdrüssig, setzte er hinzu: »Nun gehen Sie schon. Und behalten Sie unsere Auseinandersetzung für sich. Ihr Land braucht Sie. Es ist nicht mein Fehler, daß diese Leute so lange gebraucht haben, sich den Hals zu brechen.« Die Dämmerung kam bereits, und Leiser hatte immer noch kein Auge zugetan. Er wäre gerne zur Toilette gegangen, aber er wagte sich nicht auf den Korridor. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Wenn man schon nach ihm suchte, mußte er ganz normal gehen und nicht vor Anbruch des Morgens aus der Herberge stürzen. Niemals rennen, hatte es immer geheißen: gehe, wie die Menge geht. Um sechs konnte er aufbrechen: das war spät genug. Er rieb sich mit dem Handrücken das Kinn. Es war rauh und stachelig und hinterließ Kratzer auf der braunen Haut seiner Hand. Er war hungrig und wußte nicht mehr, was er tun sollte, aber davonlaufen würde er nicht. Er drehte sich im Bett um, zog aus dem Bund seiner Hose das Messer und hielt es sich vor die Augen. Ein Schauer überlief ihn. Auf seiner Stirn fühlte er eine unnatürliche Fieberhitze. Er betrachtete das Messer und dachte an die reine, freundliche Art, in der man darüber geredet hatte: Daumen oben, Klinge parallel zum Boden, Unterarm steif. »Gehen Sie weg«, hatte der alte Mann gesagt, »Sie sind entweder gut oder böse, und beides ist gefährlich.« Wie hatte er das Messer zu halten, wenn die Leute in dieser Art mit ihm sprachen? So, wie bei dem Jungen? Dann war es sechs. Er stand auf. Seine Beine waren schwer und steif. Seine Schultern schmerzten immer noch von der Last des Rucksacks. Seine Kleider rochen nach Tannennadeln und moderndem Laub, wie er merkte. Er kratzte den halb getrockneten Lehm von seiner Hose und zog das andere Paar Schuhe an. Er ging hinunter, um jemanden zu suchen, bei dem er bezahlen konnte, und die neuen Schuhe quietschten auf den Stufen der Holztreppe. Er fand eine alte Frau, die eine weiße Schürze trug und Linsen auslas, während sie zu einer Katze sprach. »Was bin ich schuldig?«
»Daß Sie den Meldezettel ausfüllen«, sagte sie säuerlich. »Das ist das erste, was Sie schuldig sind. Sie hätten es schon tun sollen, als Sie ankamen.«
»Tut mir leid.«
Sie fuhr ihn an, unterdrückt, da sie nicht wagte, die Stimme zu heben: »Wissen Sie nicht, daß es verboten ist, sich in einer Stadt aufzuhalten, ohne sich bei der Polizei zu melden?« Sie blickte auf seine neuen Schuhe hinunter. »Oder sind Sie so reich, daß Sie glauben, das habe für Sie keine Geltung?«
»Tut mir leid«, sagte Leiser noch einmal. »Geben Sie den Zettel her, und ich fülle ihn aus. Ich bin nicht reich.«
Die Frau wurde still, während sie emsig weiter in den Linsen herumstocherte. »Woher kommen Sie?« fragte sie dann. »Osten«, sagte Leiser. Er meinte Süden, von Magdeburg, oder Westen, von Wilmsdorf. »Sie hätten sich gestern abend anmelden müssen. Jetzt ist es zu spät.«
»Was habe ich zu zahlen?«
»Sie können nicht zahlen«, erwiderte die Frau. »Macht nichts. Sie haben den Zettel nicht ausgefüllt. Was werden Sie sagen, wenn man Sie fragen sollte?«
»Daß ich bei einem Mädchen war.«
»Es schneit draußen«, sagte die Frau. »Geben Sie auf Ihre hübschen Schuhe acht.«
Harte Schneekörnchen trieben verloren vor dem Wind her und sammelten sich in den Fugen zwischen den schwarzen Pflastersteinen oder blieben in den Stuckverzierungen an den Hauswänden hängen. Es war ein grauer, nutzloser Schnee, der sich dort, wo er hinfiel, bald auflöste.
Leiser überquerte den Friedensplatz und sah ein neues gelbes Gebäude, das sich auf einem öden Grundstück sechs oder sieben Stockwerke hoch erhob. Auf den Balkonen hing Wäsche, mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Im Treppenhaus roch es nach Essen und Heizöl. Die Wohnung war im dritten Stock. Er konnte das Geschrei eines Kindes und das Dudeln eines Radios hören. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht umkehren und weggehen sollte, da er eine Gefahr für sie war. Er drückte zweimal auf die Klingel, wie es das Mädchen ihm gesagt hatte. Sie öffnete schlaftrunken die Tür. Über das baumwollene Nachthemd hatte sie ihren Regenmantel gezogen und hielt ihn am Hals zu, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Als sie Leiser sah, zögerte sie, als wüßte sie nicht, was sie tun sollte, als bringe er schlechte Nachrichten. Er sagte nichts, sondern stand nur da, mit dem leise hin und her schwingenden Koffer in der Hand. Sie machte eine einladende Bewegung mit dem Kopf, und er folgte ihr durch den Flur zu ihrem Zimmer, wo er Koffer und Rucksack in eine Ecke abstellte.