An den Wänden hingen Werbeplakate von Ferienzielen: Bilder von Wüsten, Palmen und dem Mond über der tropischen See. Sie legten sich ins Bett, und sie deckte ihn mit ihrem schweren Körper zu. Sie zitterte ein wenig, denn sie hatte Angst. »Ich möchte schlafen«, sagte er. »Laß mich erst mal schlafen.«
Der russische Hauptmann sagte: »Er hat in Wilmsdorf ein Motorrad gestohlen und am Bahnhof nach Pritsche gefragt. Was wird er jetzt unternehmen?«
»Er wird wieder senden. Heute abend«, antwortete der Unteroffizier, »falls er etwas hat, was er mitteilen kann.«
»Um die gleiche Zeit?«
»Gewiß nicht. Auch nicht die gleiche Frequenz. Noch von der gleichen Stelle. Vielleicht geht er nach Wismar oder Langdorn oder Wolken; womöglich sogar nach Rostock. Oder er bleibt in Kalkstadt, geht in ein anderes Haus. Oder er sendet überhaupt nicht.«
»In ein Haus? Wer wird schon einen Spion beherbergen?«
Der Unteroffizier zuckte mit den Schultern, als wolle er andeuten, daß er selbst dazu fähig wäre. Gekränkt fragte der Hauptmann: »Woher wissen Sie, daß er aus einem Haus sendet? Warum nicht im Wald oder auf dem Feld? Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Es ist ein kräftiges Signal. Ein sehr starker Sender. Soviel Energie könnte er aus einer Batterie nicht entnehmen. Nicht aus einer, die er allein mit sich herumschleppen kann. Er benützt den Netzanschluß.«
»Riegeln Sie die Stadt ab und durchsuchen Sie jedes Haus«, sagte der Hauptmann.
»Wir wollen ihn lebend.« Der Unteroffizier sah auf seine Hände hinunter. »Sie wollen ihn doch lebend.«
»Was sollen wir sonst tun?« beharrte der Hauptmann. »Können Sie mir das verraten?«
»Man muß dafür sorgen, daß er sendet. Das ist das wichtigste. Und daß er in Kalkstadt bleibt.«
»Ja, und?«
»Wir müssen schnell sein«, meinte der Unteroffizier. »Ja, und?«
»Sie sollten ein paar Einheiten in die Stadt bringen.
Was Sie gerade auftreiben können. So schnell wie möglich. Panzer, Infanterie, ganz gleich was. Schaffen Sie Bewegung. Machen Sie ihn aufmerksam. Aber seien Sie schnell!«
»Ich werde gleich gehen«, sagte Leiser. »Behalte mich nicht hier. Gib mir Kaffee, und ich werde gehen.«
»Kaffee?«
»Ich habe Geld«, sagte Leiser, als sei das das einzige, was er habe. »Hier.« Er kletterte aus dem Bett, holte die Brieftasche aus seiner Jacke und zog einen Hundertmarkschein aus dem Bündel. »Behalte das.« Sie nahm die Brieftasche und leerte sie leise lachend auf die Bettdecke aus. Sie hatte eine täppische, katzenhaft verspielte Art, die nicht ganz normal wirkte, und den schnellen Instinkt einer Ungebildeten. Er betrachtete sie unbeteiligt, während seine Finger über ihre nackte Schulter strichen. Sie hielt das Bild einer Frau hoch, eine Blondine mit rundem Gesicht. »Wer ist das? Wie heißt sie?«
»Sie existiert gar nicht.«
Sie entdeckte die Briefe und las einen davon laut vor. Bei den leidenschaftlichen Stellen lachte sie laut. »Wer ist das?« bohrte sie weiter. »Wer ist sie?«
»Ich sage dir doch, daß es sie gar nicht gibt.«
»Dann kann ich die Briefe zerreißen?« Sie hielt einen der Briefe mit beiden Händen vor ihm hoch und tat so, als wolle sie ihn zerreißen, während sie auf seinen Protest wartete. Leiser sagte nichts. Sie riß ein Stück ein und beobachtete ihn noch immer, dann zerriß sie das Blatt, dann noch eines und noch eines. Sie stieß auf das Bild eines Kindes, eines Mädchens mit Brille, vielleicht acht oder neun Jahre alt, und wieder fragte sie: »Wer ist das? Ist das dein Kind? Gibt's dieses Mädchen?«
»Nein. Das ist niemand. Niemandes Kind. Bloß ein Foto.« Sie zerriß auch das und verstreute die Schnitzel mit großer Gebärde über das Bett. Dann warf sie sich über ihn und küßte ihn auf Gesicht und Hals. »Wer bist du? Wie heißt du?« Er wollte es ihr gerade sagen, als sie ihn zurückstieß. »Nein«, rief sie schnell. »Nein!« Sie senkte die Stimme. »Ich will dich ohne irgend etwas. Ganz allein. Nur du und ich. Wir werden unsere eigenen Namen erfinden, unsere eigenen Gesetze. Niemand sonst, überhaupt niemand. Kein Vater, keine Mutter. Wir drucken unsere eigene Zeitung, unsere Pässe, unsere Marken. Wir machen uns unsere eigenen Menschen.« Sie flüsterte jetzt, und ihre Augen leuchteten. »Du bist ein Spion«, sagte sie mit den Lippen an seinem Ohr. »Ein Geheimagent. Du hast eine Pistole.«
»Ein Messer macht weniger Lärm«, sagte er. Sie lachte sich darüber halbtot, bis sie die blauen Flecken auf seinen Schultern entdeckte. Sie berührte sie neugierig und respektvoll, wie wohl ein Kind etwas Totes berühren würde.
Sie verließ die Wohnung mit dem Einkaufskorb in der Hand, den Regenmantel hielt sie immer noch am Hals zusammen. Leiser zog sich an, rasierte sich - es gab nur kaltes Wasser -, und starrte sein zerfurchtes Gesicht in dem zersprungenen Spiegel über dem Becken an. Als sie zurückkam, war es beinahe Mittag, und sie sah besorgt aus.
»Die Stadt ist voll mit Soldaten. Und Militärlastwagen.
Was wollen die hier?«
»Vielleicht suchen sie nach jemandem.«
»Sie sitzen nur herum und trinken.«
»Was sind das für Soldaten?«
»Ich weiß nicht. Russen. Woher soll ich das wissen?«
Er ging zur Tür. »Bin in einer Stunde zurück.«
Sie sagte: »Du willst nur von mir weglaufen.« Sie hielt ihn am Arm, sah zu ihm auf, im Begriff, eine Szene zu machen.
»Ich komme zurück. Vielleicht erst später. Vielleicht heute abend. Aber wenn ich komme.«
»Ja?«
»Es wird gefährlich sein. Dann muß ich, ich muß hier etwas tun. Etwas sehr Gefährliches.« Sie küßte ihn. Es war ein leichter, einfältiger Kuß. »Ich mag die Gefahr.«
»Vier Stunden noch«, sagte Johnson. »Falls er noch lebt.«
»Natürlich lebt er«, sagte Avery ärgerlich. »Warum reden Sie solches Zeug?« Haldane mischte sich ein. »Seien Sie kein Esel, Avery. Es ist ein technischer Ausdruck. Tote oder lebende Agenten. Es hat nichts mit seinem physischen Zustand zu tun.« Leclerc trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. »Er ist ganz in Ordnung«, sagte er. »Fred kann man nicht so leicht umbringen. Er ist ein alter Hase.« Offenbar hatte ihn das Tageslicht wieder munter gemacht. Er sah auf seine Uhr. »Was, zum Teufel, ist mit diesem Kurier passiert, frage ich mich.«
Leiser blinzelte zu den Soldaten hinüber, als komme er aus einer dunklen Höhle ans Tageslicht. Sie füllten die Cafes, starrten in die Schaufenster, glotzten den Mädchen nach. Auf dem Platz waren Lastwagen abgestellt. Ihre Reifen waren vom rötlichen Schlamm verschmiert und über ihren Motorhauben lag ein dünner Überzug aus Schnee. Er zählte neun Wagen. Einige hatten schwere Anhängerkupplungen an ihrer Rückfront. Andere trugen auf den zerbeulten Türen des Fahrerhauses Aufschriften in kyrillischen Buchstaben oder das aufgemalte Wappen irgendeiner Einheit und eine Nummer. Er prägte sich die Einzelheiten der Uniformen ein, die die Fahrer trugen, die Farbe ihrer Schulterstücke. Es wurde ihm klar, daß sie verschiedenen Einheiten angehörten. Auf dem Rückweg zur Hauptstraße trat er in ein Cafe und bestellte etwas zu trinken. An einem Tisch saß ein halbes Dutzend mißvergnügter Soldaten, die sich drei Flaschen Bier teilten. Leiser grinste zu ihnen hinüber, es war wie die Aufforderung einer müden Hure. Er hob seine Faust zum sowjetischen Gruß, und sie starrten zu ihm herüber, als sei er verrückt. Er ließ sein Glas stehen und ging zum Platz zurück. Um die Lastwagen hatte sich eine Gruppe von Kindern versammelt, und die Fahrer sagten ihnen immer wieder, sie sollten verschwinden.