Er machte eine Runde durch die Stadt und ging in ein Dutzend Cafes, aber niemand wollte mit ihm sprechen, weil er ein Fremder war. Überall saßen oder standen die Soldaten in Gruppen herum, gekränkt und verwirrt, als habe man sie ohne Grund hochgescheucht.
Er aß irgendwo eine Wurst und trank einen Steinhäger dazu, dann ging er zum Bahnhof, um zu sehen, ob dort irgend etwas los war. Derselbe Beamte war wieder dort und beobachtete ihn durch sein kleines Fensterchen - diesmal ohne Mißtrauen; Leiser spürte, aber es war ihm gleichgültig, daß der Mann die Polizei verständigt hatte.
Auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum kam er an einem Kino vorbei. Ein paar Mädchen hatten sich vor den ausgehängten Bildern versammelt; er stellte sich zu ihnen und tat, als betrachte er die Fotos. Dann hörte er den Lärm. Es war ein metallisches, unregelmäßiges Dröhnen, das die Luft mit dem Heulen und Rasseln von Motoren, mit Stahl und Krieg erfüllte. Er zog sich in die Deckung des Kinoeinganges zurück, sah die Mädchen sich umdrehen und die Kartenverkäuferin in ihrem Verschlag aufstehen. Ein alter Mann bekreuzigte sich. Er hatte nur noch ein Auge und trug den Hut schief auf dem Kopf. Die Panzer rollten durch die Stadt; auf ihnen saßen Soldaten mit ihren Karabinern in den Händen. Die Geschützrohre waren zu lang und weiß von Schnee überzuckert. Er ließ sie vorbei und ging dann schnell über den Platz. Sie lächelte, als er hereinkam. Er war außer Atem. »Was machen sie?« fragte das Mädchen. Dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck. »Du hast Angst«, flüsterte sie, aber er schüttelte den Kopf. »Du hast Angst«, wiederholte sie. »Ich habe den Jungen umgebracht«, sagte er. Er ging zum Waschbecken und studierte sein Gesicht mit der großen Sorgfalt eines Mannes, der verurteilt ist. Sie trat hinter ihn, legte die Arme um seinen Brustkasten und preßte sich gegen seinen Rücken. Er drehte sich um und griff wild nach ihr, hielt sie ungeschickt und drängte sie durch das Zimmer. Sie wehrte sich mit der Wut eines Kindes, mit irgendeinem Namen auf den Lippen und dem Haß gegen irgend jemand im Herzen, sie verfluchte und nahm ihn, die Welt brannte, und sie allein lebten. Sie weinten und lachten zusammen im Fallen, ungeschickt in der Liebe und plump im Triumph, in dem sie nicht einander, sondern jeder nur sich selbst erkannten, und für einen Augenblick die ungelebt gebliebenen Teile ihrer Leben nachholten. In diesem Augenblick dachten sie nicht an die große, verfluchte Dunkelheit. Johnson beugte sich aus dem Fenster und zog sanft an der Antenne, um sich zu vergewissern, ob sie noch fest war. Dann begann er wie ein Rennfahrer vor dem Start noch einmal seine Apparaturen zu überprüfen, indem er die Kabelverbindungen berührte und unnötig an den Knöpfen herumdrehte. Leclerc sah ihm voll Bewunderung zu.
»Johnson, das haben Sie das letzte Mal wirklich fein gemacht. Wirklich fein. Wir schulden Ihnen unsere dankbare Anerkennung.« Leclercs Gesicht glänzte, als habe er sich gerade erst rasiert. In dem blassen Licht sah er seltsam zerbrechlich aus. »Ich denke, ich werde mir noch eine Sendung anhören und dann nach London zurückfahren.« Er lachte. »Wir haben einen Haufen Arbeit, wissen Sie. Es ist nicht gerade die richtige Zeit für Ferien am Kontinent.« Johnson tat so, als habe er ihn nicht gehört. Er hob die Hand. »Dreißig Minuten«, sagte er. »Ich werde Sie bald um etwas Ruhe bitten müssen, meine Herren.« Er benahm sich wie ein Zauberer auf einem Kinderfest. »Fred ist immer verteufelt pünktlich«, bemerkte er laut.
Leclerc wandte sich an Avery. »Sie gehören zu den glücklichen Leuten, John, die in Friedenszeiten eine Aktion erleben konnten.« Er schien unbedingt mit jemandem sprechen zu müssen. »Ja. Ich bin auch sehr dankbar.«
»Das brauchen sie gar nicht zu sein. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, und das erkennen wir auch an. Von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Sie haben etwas erreicht, das bei unserer Tätigkeit sehr selten ist. Ich frage mich, ob Sie wissen, was ich damit meine?«
Avery sagte, er wisse es nicht. »Sie haben einen Agenten dazu gebracht, daß er Sie gern hat. Normalerweise - Adrian wird das bestätigen - wird die Beziehung zwischen einem Agenten und seinen Führern von Mißtrauen beherrscht. Vor allem hat er etwas gegen sie, weil sie die Arbeit nicht selbst verrichten. Er verdächtigt sie irgendwelcher Hintergedanken, hält sie für unfähig und verlogen. Aber wir sind nicht das Rondell, John: so etwas ist nicht unsere Art.«
Avery nickte: »Nein, ganz richtig.«
»Sie haben noch etwas geleistet - Sie und Adrian. Es wäre mir sehr willkommen, wenn wir - im Falle einer ähnlichen Notwendigkeit- in Zukunft die gleiche Technik anwenden könnten, die gleichen Möglichkeiten, das gleiche fachmännische Geschick. Ich meine die Avery-Haldane-Methode. Was ich sagen will, ist -« Leclerc hob die Hand und strich sie mit einer ganz ungewöhnlichen Geste englischer Schüchternheit mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken-, »daß die von Ihnen gesammelten Erfahrungen zu unser aller Nutzen sind. Ich danke Ihnen.« Haldane ging zum Ofen und begann seine Hände zu wärmen, indem er sie leicht aneinander rieb, als wolle er Körner aus einer Ähre lösen. »Diese ungarische Angelegenheit«, fuhr Leclerc fort, wobei er die Stimme hob - teils aus Begeisterung, teils aber wohl auch, um die plötzlich entstehende Atmosphäre der Vertraulichkeit zu zerstören - »ist eine vollständige Reorganisation. Nichts weniger. Sie ziehen ihre Panzer an der Grenze zusammen, verstehen sie. Im Ministerium spricht man von Angriffsstrategie. Man ist sehr interessiert daran.« Avery sagte: »Mehr als an Mayfly?«
»Nein, nein«, protestierte Leclerc leichthin. »Es gehört alles zum selben Komplex. Dort denkt man in sehr großen Zusammenhängen, wissen Sie. Hier eine Bewegung, dort eine Bewegung - es muß alles zum Gesamtbild zusammengesetzt werden.«
»Natürlich«, sagte Avery zuvorkommend. »Wir selbst können das gar nicht überblicken, oder? Wir können das Gesamtbild nicht erkennen.« Er versuchte, Leclerc die Situation zu erleichtern. »Wir haben nicht den Überblick.«
»Sobald wir nach London zurückkommen«, schlug Leclerc vor, »müssen Sie mal bei mir zu Abend essen, John. Sie und Ihre Frau, kommen Sie doch beide. Ich wollte es schon seit langem vorschlagen. Wir werden in meinen Club gehen. Sie servieren im Damensalon immer ein recht anständiges Essen. Es würde Ihrer Frau gefallen.«
»Sie erwähnten es schon einmal. Ich habe Sarah gefragt. Wir würden sehr gerne kommen. Meine Schwiegermutter ist gerade bei uns und sie könnte auf das Kind aufpassen.«
»Wie gut. Vergessen Sie es nicht.«
»Wir freuen uns darauf.«
»Bin ich nicht eingeladen?« fragte Haldane kokett. »Aber selbstverständlich, Adrian. Dann sind wir vier. Ausgezeichnet.« Seine Stimme nahm einen anderen Ton an. »Übrigens haben sich die Besitzer des Hauses in Oxford beschwert. Sie behaupten, wir hätten es in schlechtem Zustand zurückgelassen.«
»Schlechtem Zustand?« echote Haldane ärgerlich. »Angeblich haben wir die elektrischen Leitungen überlastet. Irgendwas scheint fast ausgebrannt zu sein. Ich sagte Woodford, er solle sich damit befassen.«
»Wir sollten unser eigenes Haus haben«, sagte Avery. »Dann brauchten wir uns wegen so was keine Sorgen zu machen.«
»Ganz meiner Meinung. Ich habe schon mit dem Minister darüber gesprochen. Was wir brauchen, ist ein Ausbildungszentrum. Er war ganz begeistert. Er ist jetzt ganz scharf auf so etwas. Sie haben dort schon eine Abkürzung dafür. Sie sprechen von SAEs. Strategische Aufklärungs-Einsätze. Er meint, wir sollen ein Haus suchen und es zunächst für sechs Monate mieten. Er hat vorgeschlagen, daß er wegen des Pachtvertrags mit dem Schatzamt sprechen wird.«
»Das ist großartig«, sagte Avery. »Es könnte sehr nützlich sein. Wir dürfen auf keinen Fall das in uns gesetzte Vertrauen enttäuschen.«
»Natürlich.«
Ein plötzlicher Luftzug und das leise Geräusch, wie jemand vorsichtig die Treppe heraufstieg. In der Tür zum Dachboden erschien eine Gestalt. Sie trug einen teuren Mantel aus braunem Tweed mit etwas zu langen Ärmeln. Es war Smiley.