22. Kapitel
Smiley sah sich im Raum um, betrachtete Johnson, der jetzt die Kopfhörer über den Ohren hatte und mit den Schaltern und Knöpfen seines Gerätes beschäftigt war, sah auf Avery, der über Haldanes Schulter hinweg auf die Funkzeichentabelle spähte, auf den steif wie ein Soldat dastehenden Leclerc, der ihn, als einziger bisher, bemerkt hatte, und dessen Gesicht - obwohl es ihm zugewandt war - keinen Ausdruck zeigte.
»Was wollen Sie hier?« fragte Leclerc schließlich.
»Was wünschen Sie von mir?«
»Tut mir leid, aber man hat mich geschickt.«
»Das hat man uns alle«, sagte Haldane, ohne sich zu bewegen.
Ein warnender Unterton schwang in Leclercs Stimme mit, als er sagte: »Das ist meine Operation, Smiley. Wir haben hier keinen Platz für Ihre Leute.« Smileys Miene verriet nichts als Mitgefühl, und in seiner Stimme lag nichts als die erschreckende Sanftmut, mit der man zu Irren spricht.
»Ich bin nicht von Control geschickt worden«, sagte er. »Es war das Ministerium. Sie haben mich angefordert, verstehen Sie, und Control gab mich frei. Das Ministerium stellte das Flugzeug.«
»Warum?« erkundigte sich Haldane. Er schien fast belustigt.
Einer nach dem anderen bewegte sich, als erwachten sie aus dem gleichen Traum. Johnson legte vorsichtig seine Kopfhörer auf den Tisch. »Nun?« fragte Leclerc. »Warum hat man Sie geschickt?«
»Man rief mich in der vergangenen Nacht ins Ministerium.« Es gelang ihm anzudeuten, daß er ebenso verwirrt war wie sie. »Ich müßte Ihre Operation wirklich bewundern - die Art, in der Sie und Haldane die ganze Sache aus dem Nichts aufgebaut haben. Man hat mir die Akten gezeigt. Sehr sorgfältig geführt: das Archiv-Stück, die Arbeitskopie, die abgestempelten Protokolle - alles wie im Krieg. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«
»Man hat Ihnen die Akten gezeigt? Unsere Akten?« wiederholte Leclerc. »Das ist ein Bruch der Sicherheitsbestimmungen. Die Vorgänge in den einzelnen Abteilungen sind geheim. Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht, Smiley. Diese Leute müssen verrückt sein! Adrian, hast du gehört, was Smiley mir mitgeteilt hat?«
Smiley fragte: »Ist für heute ein Funkkontakt vorgesehen, Johnson?«
»Jawohl, Sir. Um einundzwanzig nullnull.«
»Ich war überrascht, Adrian, daß Sie die Hinweise für überzeugend genug hielten, um eine so große Operation zu rechtfertigen.«
»Haldane war nicht dafür verantwortlich«, sagte Leclerc trocken. »Es war eine Entscheidung, die gemeinsam getroffen wurde: von uns einerseits, vom Ministerium andererseits.« Seine Stimme wechselte ihren Klang. »Wenn die Sendung beendet ist, werde ich von Ihnen Aufklärung darüber verlangen - und ich habe das Recht dazu, Smiley -, wie Sie dazu gekommen sind, Einsicht in unsere Akten zu nehmen.« Es war seine Stimme für Vorstandssitzungen; sie war kräftig und volltönend, und zum erstenmal klang sie würdig.
Smiley trat in die Mitte des Raumes. »Es ist etwas passiert, von dem Sie nichts wissen können: Leiser hat an der Grenze einen Mann getötet. Er brachte ihn während des Grenzübertritts mit seinem Messer um, drei Kilometer von hier entfernt, direkt an der Übergangsstelle.«
Haldane sagte: »Das ist Unsinn. Wieso Leiser? Genausogut kann es ein Flüchtling gewesen sein, der nach dem Westen wollte. Irgendwer kann es gewesen sein.«
»Sie fanden Fußspuren, die nach Osten führten, Blutspuren in der Bootshütte am See. Die Zeitungen in Ostdeutschland sind voll davon. Seit gestern mittag strahlen sie es über den Rundfunk aus...« Leclerc schrie: »Ich glaube einfach nicht, daß er es getan hat. Es ist wieder irgendein Trick von Control.«
»Nein«, erwiderte Smiley freundlich. »Sie müssen es mir schon glauben. Es ist wahr.«
»Taylor ist umgebracht worden«, sagte Leclerc. »Haben Sie das schon vergessen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber wir werden das nie genau wissen, oder? Wie er starb, meine ich. ob er wirklich ermordet wurde.« Und hastig fuhr er fort: »Ihr Ministerium hat das Außenamt gestern nachmittag informiert. Die Deutschen müssen ihn ganz einfach erwischen, verstehen Sie. Das müssen wir unterstellen. Er funkt langsam, sehr langsam sogar. Jeder Polizist, jeder Soldat ist hinter ihm her. Sie wollen ihn lebend. Wir können überzeugt sein, daß sie einen großen Schauprozeß aufziehen werden, mit einem öffentlichen Geständnis und einer Ausstellung seiner Ausrüstung. Das kann für uns sehr unangenehm werden. Man braucht kein Politiker zu sein, um die Gefühle eines Ministers zu verstehen. Es stellt sich also die Frage, was wir jetzt tun sollen.«
Leclerc sagte: »Achten Sie auf die Uhr, Johnson.« Johnson nahm die Kopfhörer und stülpte sie sich wieder über die Ohren, aber ohne innere Überzeugung.
Offenbar wartete Smiley darauf, daß ein anderer etwas sagen würde, da aber alle schwiegen, wiederholte er schwerfällig: »Es stellt sich also die Frage, was wir unternehmen sollen. Wie ich schon sagte, sind wir keine Politiker, aber wir können die Gefahren sehen, die daraus entstehen werden: in einem Bauernhaus, drei Kilometer von der Stelle, wo die Leiche gefunden wurde, eine Gesellschaft von Engländern, die sich als Wissenschaftler ausgeben, Lebensmittel von der Armeeversorgungsstelle und das ganze Haus voll Funkgeräten haben. Verstehen Sie, was ich meine?« Und weiter: »Sie senden Ihre Signale auf der gleichen Frequenz wie Leiser, immer die gleiche Frequenz - das könnte wirklich einen Riesenskandal geben. Man kann sich vorstellen, daß sogar die Westdeutschen schrecklich verärgert wären.«
Als erster sprach Haldane wieder: »Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?«
»In Hamburg wartet eine Militärmaschine. Sie werden in zwei Stunden abfliegen - Sie alle. Ein Lastwagen wird die Geräte abholen. Sie dürfen nichts hier zurücklassen, nicht mal eine Nadel. Das ist mein Auftrag.« Leclerc fragte: »Und was ist mit dem Ziel? Hat man vergessen, wozu wir hier sind? Man verlangt viel von uns, wissen Sie, Smiley, sehr viel!«
»Ja, das Ziel«, gab Smiley zu. »Wir werden das in London besprechen. Vielleicht könnten wir eine gemeinsame Operation einleiten.«
»Es ist ein militärisches Ziel. Ich werde darauf bestehen, daß mein Ministerium vertreten ist. Kein monolithischer Apparat. Das ist ein für alle Male festgesetzt worden, wie Sie wissen.«
»Natürlich. Und es wird Ihre Angelegenheit sein.«
»Ich schlage vor, daß wir für das Ergebnis gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Mein Ministerium könnte unter diesen Umständen seine Selbständigkeit in den Fragen der Ausführung behalten. Ich kann mir vorstellen, daß diese Lösung die Einwände entkräftet, die man offensichtlich hat. Was ist mit Ihren Leuten?«
»Ja, ich glaube, daß Control damit einverstanden wäre.«
Leclerc bemerkte beiläufig, und alle hörten aufmerksam zu: »Und die Sendung? Wer kümmert sich darum? Wir haben doch einen Agenten im Einsatz.« Es schien ein bedeutungsloser Einwand. »Er wird sich um sich selbst kümmern müssen.«
»Die Kriegsregeln«, sagte Leclerc stolz. »Wir spielen nach den Regeln des Krieges. Er wußte das. Seine Ausbildung war gut.« Er schien beruhigt. Das Thema war für ihn erledigt.
Zum erstenmal ergriff Avery das Wort: »Sie können ihn doch nicht allein da draußen sitzenlassen!« Seine Stimme war tonlos.
Leclerc mischte sich ein: »Sie kennen Avery, meinen Assistenten?« Diesmal kam ihm niemand zu Hilfe. Smiley achtete nicht auf ihn. Er sagte: »Der Mann wurde wahrscheinlich schon geschnappt. Das Ganze ist nur noch eine Frage von Stunden.«
»Sie lassen ihn dort verrecken!« Avery faßte Mut. »Wir streiten ab, daß er zu uns gehört. Das ist nie sehr hübsch. Aber er ist schon so gut wie gefangen, sehen Sie das nicht ein?«
»Das können Sie doch nicht tun!« rief Avery. »Sie können ihn doch nicht aus schmutzigen diplomatischen Gründen einfach sitzenlassen!« Diesmal fuhr Haldane Avery wütend an. »Sie sind der letzte, der sich beschweren darf. Sie waren es doch, der immer vom Glauben an unsere Arbeit sprach, oder? Sie wollten ein elftes Gebot, das Ihrer eigenartigen Seele genügt!« Er deutete auf Smiley und Leclerc. »Na bitte, hier ist es: hier ist das Gesetz, das Sie gesucht haben. Beglückwünschen Sie sich - Sie haben es gefunden. Wir schickten ihn hinüber, weil es notwendig war, wir lassen ihn im Stich, weil wir müssen. Das ist Ihre bewunderte Disziplin!« Er wandte sich zu Smiley: »Und Sie! Sie sind gemein. Zuerst stoßen Sie uns das Messer in den Rücken und dann beten Sie für die Sterbenden. Scheren Sie sich weg! Wir sind Techniker und keine Poeten. Scheren Sie sich weg!«