»Sie sind erst vor kurzem hier in Moskau eingetroffen?« fragte ihn die Gräfin.
»Ja, ja, ja«, antwortete er und blickte um sich.
»Sie haben meinen Mann noch nicht gesehen?«
»Nein, noch nicht.«
Er lächelte, obwohl dazu gar kein Anlaß war.
»Sie sind ja wohl kürzlich in Paris gewesen? Ich denke mir das höchst interessant.«
»Ja, es ist höchst interessant.«
Die Gräfin tauschte einen Blick mit Anna Michailowna aus. Anna Michailowna verstand dies richtig dahin, daß sie gebeten wurde, diesen jungen Mann zu beschäftigen; so setzte sie sich denn zu ihm und begann von seinem Vater zu reden; aber wie der Gräfin, so gab er auch ihr nur einzelne, abgerissene Worte zur Antwort. Die Gäste waren alle in eifriger Unterhaltung miteinander begriffen.
»Bei Rasumowskis … Oh, es war ganz allerliebst … Sie sind sehr gütig … Die Gräfin Apraxina …«, so summte es von allen Seiten durcheinander. Die Gräfin stand auf und ging nach dem Vorsaal hinaus.
»Marja Dmitrijewna?« hörten die im Salon Befindlichen sie draußen sagen.
»Sie selbst«, antwortete eine derbe Frauenstimme, und gleich darauf trat Marja Dmitrijewna, von der Gräfin geleitet, in den Salon. Alle jungen Mädchen und sogar die verheirateten Damen, nur die ältesten ausgenommen, erhoben sich von ihren Plätzen. Marja Dmitrijewna blieb in der Tür stehen, reckte ihren fünfzigjährigen, mit grauen Locken geschmückten Kopf gerade aufrecht, ließ von der Höhe ihrer wohlbeleibten Gestalt herab ihre Blicke über die Gäste schweifen und brachte langsam die weiten Ärmel ihres Kleides in Ordnung, was den Eindruck machte, als ob sie sie aufstreifen wollte. Marja Dmitrijewna sprach immer russisch.
»Meinen Glückwunsch der lieben Hausfrau und ihrem Töchterchen, die heute ihren Namenstag feiern!« sagte sie mit ihrer lauten, tiefen, alles übertönenden Stimme. »Nun, wie geht es dir, du alter Sünder?« Mit diesen Worten wandte sie sich zu dem Grafen, der ihr die Hand küßte. »Es ist dir hier wohl zu langweilig in Moskau? Zu Hetzjagden findest du hier wohl keine Gelegenheit? Aber was ist da zu machen, mein Lieber? Wenn diese Vögelchen heranwachsen«, sie zeigte auf die jungen Mädchen, »dann muß man Bräutigame für sie suchen, ob es einem nun paßt oder nicht.«
»Na, und wie steht es mit dir, mein Kosak?« (Marja Dmitrijewna nannte Natascha gern so) sagte sie, indem sie mit der Hand Natascha liebkoste, die fröhlich und ohne Schüchternheit zu ihr herangetreten war, um ihr die Hand zu küssen. »Ich weiß, daß dieses Mädchen ein richtiges Unkraut ist; aber ich habe sie doch gern.«
Sie holte aus ihrem riesigen Ridikül ein Paar Ohrringe mit birnförmigen Saphiren daran heraus, reichte sie der freudestrahlenden, errötenden Natascha hin und wandte sich dann sofort von ihr ab und redete Pierre an.
»Heda, heda, lieber Freund! Komm doch mal her!« sagte sie mit gekünstelt sanfter, hoher Stimme. »Komm mal her, lieber Freund!« Dabei streifte sie, gleichsam drohend, ihre Ärmel noch höher auf.
Pierre trat heran und blickte sie durch seine Brille ohne Verlegenheit an.
»Komm nur heran, immer näher, lieber Freund. Auch bei deinem Vater bin ich die einzige gewesen, die ihm die Wahrheit sagte, als er hoch in Gunst stand; und nun fühle ich mich vor Gott verpflichtet, sie auch dir zu sagen.« Sie machte eine kleine Pause. Alle schwiegen in dem Gefühl, daß dies nur die Vorrede gewesen war, und in Erwartung dessen, was noch weiter kommen werde. »Ein nettes Bürschchen, das muß man sagen, ein nettes Bürschchen! Sein Vater liegt auf dem Sterbebett, und er amüsiert sich, indem er einen Reviervorsteher rittlings auf einen Bären setzt! Schäme dich, Verehrtester, schäme dich! Du würdest besser tun, in den Krieg zu gehen.«
Sie wandte sich von ihm weg und schob ihren Arm in den Arm des Grafen, der kaum das Lachen unterdrücken konnte. »Na also, wie ist’s? Zu Tisch? Ich glaube, es ist Zeit!« sagte Marja Dmitrijewna.
Voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna; dann folgte die Gräfin, welche der Husarenoberst führte, ein Mann, der für die Familie von hoher Wichtigkeit war, da Nikolai mit ihm zusammen das Regiment einholen sollte; hierauf Anna Michailowna mit Schinschin. Berg hatte Wjera den Arm gereicht; die lächelnde Julja Karagina ging mit Nikolai zu Tisch. Hinter ihnen kamen in langer Reihe, die sich durch den ganzen Saal hinzog, die andern Paare, und ganz zum Schluß, einzeln gehend, die Kinder, der Hauslehrer und die Gouvernante. Die Diener gerieten in Bewegung; mit lautem Geräusch wurden die Stühle gerückt; auf der Galerie setzte die Musik ein, und die Gäste verteilten sich auf ihre Plätze. Die Töne des gräflichen Hausorchesters verstummten dann und wurden abgelöst von dem Klappern der Messer und Gabeln, dem Gespräch der Gäste und den leisen Schritten der Diener. An dem einen Ende des Tisches saß obenan die Gräfin, rechts von ihr Marja Dmitrijewna, links Anna Michailowna; dann schlossen sich daran die andern Damen. Am andern Ende saß der Graf, links von ihm der Husarenoberst, rechts Schinschin; weiterhin die übrigen Herren. An der einen Seite des langen Tisches hatte die schon erwachsene Jugend ihre Plätze erhalten: Wjera neben Berg, Pierre neben Boris; auf der andern Seite saßen die Kinder, der Hauslehrer und die Gouvernante. Der Graf blickte hinter den kristallenen Karaffen und den kristallenen Fruchtschalen hervor hin und wieder hinüber zu seiner Frau und ihrer hohen Haube mit den blauen Bändern; er goß seinen Nachbarn eifrig Wein ein, ohne sich selbst dabei zu vergessen. Die Gräfin warf ebenfalls hinter den prächtigen Ananas hervor, ohne die Pflichten der Wirtin zu vergessen, bedeutsame Blicke zu ihrem Mann hin, dessen Glatze und Gesicht, wie es ihr vorkam, durch ihre Röte immer schärfer von den grauen Haaren abstachen. An demjenigen Ende, wo die Damen saßen, war ein gleichmäßiges Geplauder im Gang; bei den Herren dagegen erschollen die Stimmen immer lauter und lauter, besonders die Stimme des Husarenobersten, welcher, immer röter werdend, so viel aß und trank, daß der Graf ihn schon den andern Gästen als Muster hinstellte. Berg sprach, zärtlich lächelnd, mit Wjera davon, daß die Liebe keine irdische, sondern eine himmlische Empfindung sei. Boris nannte seinem neuen Freund Pierre die am Tisch sitzenden Gäste und wechselte Blicke mit Natascha, die ihm gegenübersaß. Pierre redete nur wenig, betrachtete die neuen Gesichter und aß sehr viel. Von den beiden Suppen (er hatte sich für die Schildkrötensuppe entschieden) und der Fischpastete an bis zu den Haselhühnern ließ er kein einziges Gericht vorübergehen und ebenso keinen der Weine, die der Haushofmeister in sorgsam mit Servietten umwickelten Flaschen geheimnisvoll hinter der Schulter des Tischnachbarn zum Vorschein brachte, indem er dazu »Dry Madeira« oder »Ungarwein« oder »Rheinwein« murmelte. Pierre hielt das erstbeste der vier mit dem Monogramm des Grafen versehenen Kristallgläser hin, die bei jedem Gedeck standen, und trank mit Genuß; und je mehr er trank, mit um so freundlicherer Miene betrachtete er um sich her die andern Gäste. Natascha, die ihm gegenübersaß, blickte Boris so an, wie dreizehnjährige Mädchen eben einen jugendlichen Angehörigen des anderen Geschlechts anblickten, mit dem sie sich kurz vorher zum erstenmal geküßt haben und in den sie verliebt sind. Diesen selben Blick richtete sie mitunter auch auf Pierre, und unter dem Blick dieses lachlustigen, lebhaften jungen Mädchens bekam er selbst Lust zu lachen, ohne zu wissen worüber.
Nikolai saß ziemlich weit von Sonja neben Julja Karagina und unterhielt sich wieder mit ihr über irgend etwas mit demselben unwillkürlichen Lächeln. Sonja lächelte um der Etikette willen, wurde aber offenbar von arger Eifersucht gequält: sie wurde bald blaß, bald rot und strengte ihr Gehör aufs äußerste an, um etwas von dem aufzufangen, was Nikolai und Julja miteinander sprachen. Die Gouvernante blickte unruhig um sich, als ob sie sich zur Gegenwehr bereitmachte, falls jemand sich beikommen ließe, den Kindern etwas zuleide zu tun. Der deutsche Hauslehrer gab sich Mühe, die Namen der einzelnen Gerichte und Weine sowie der verschiedenen Arten von Dessert seinem Gedächtnis einzuprägen, um seinen Angehörigen in Deutschland brieflich alles recht genau schildern zu können, und fühlte sich sehr beleidigt, daß der Haushofmeister mit einer Flasche in der Serviette an ihm vorbeiging. Der Deutsche zog ein finsteres Gesicht und suchte durch seine Miene anzudeuten, es habe ihm eigentlich gar nichts daran gelegen, von diesem Wein zu bekommen; aber es war ihm ärgerlich, bei niemand ein Verständnis für seine Versicherung zu finden, daß er Wein überhaupt nicht trinke, um den Durst zu stillen, nicht aus Gierigkeit, sondern aus reiner Wißbegierde.